Politik

"Nein zur Diktatur" In Israel ist die Demokratie in Gefahr

Viele Israelis befürchten, dass die neue Rechtsregierung die Demokratie einschränken wird.

Viele Israelis befürchten, dass die neue Rechtsregierung die Demokratie einschränken wird.

(Foto: Tal Leder)

Nie zuvor wurde Israel von einer so rechtsnationalen Koalition regiert. Unter dem Deckmantel von Reformen wollen sie den Staat in eine illiberale Demokratie umwandeln. Doch Widerstand macht sich breit.

Kurz nach Gründung des Staates Israel sollte ein Ereignis die junge Demokratie auf die Probe stellen. Während des Unabhängigkeitskriegs kam es am Strand von Tel Aviv im Juni 1948 zur Konfrontation zwischen der neuformierten israelischen Armee und dem Irgun, einer Miliz, die schon gegen die britische Mandatsregierung gekämpft hatte. Mit dem Landungsschiff "Altalena" wollte die Untergrundorganisation Waffen und Kämpfer ins Land bringen. Premierminister David Ben-Gurion, der die Milizen in die Armee eingliedern wollte, gab nach erfolglosen Verhandlungen den Befehl zum Angriff. Bei dem Vorfall starben nicht nur 19 Menschen, er führte auch fast zum Bürgerkrieg.

Man muss diese Geschichte kennen, um folgende Einschätzung einordnen zu können: "Die Demokratie Israels ist in größerer Gefahr als damals", sagt Jakov Eitan. Der 91-jährige Physiker gehörte 1948 zur Armee-Einheit, die die "Altalena" versenkte. "Die neue rechtsnationale Regierung ist eine Bedrohung für unseren inneren Zusammenhalt und demokratische Legitimität", sagt Eitan.

Tatsächlich gibt es erneut Israelis, die Angst davor haben, dass ein Bruderkrieg ausbrechen könnte. Seit Wochen führen die von der neuen Regierung geplanten Reformen zu landesweiten Demonstrationen, auf denen Parolen wie "Nein zur Diktatur" gerufen werden. "Die existenzielle Bedrohung von außen hat Israel immer wieder vereint", sagt Jakov Eitan. "Doch die Gefahr von innen kann uns zerstören." Auch er protestiert für den Erhalt eines jüdisch-demokratischen Staates und warnt vor seiner Umwandlung in eine illiberale Demokratie. "Wenn Worte enden, könnten Taten beginnen."

Parallelen zur Türkei und Ungarn

Aus Sicht ihrer Gegner ist die neue Regierung des langjährigen israelischen Ministerpräsidenten die politisch extremste und moralisch korrupteste in der Geschichte Israels. Zwar gab es schon früher israelische Politiker, die radikal, korrupt oder inkompetent waren - aber nie alles auf einmal und nicht in diesem Ausmaß. Seit ihrem Amtsantritt verkünden die Koalitionäre fast täglich neue Provokation, begierig darauf, ihre Gefolgschaft zu beeindrucken und andere zu ärgern. Nach dem Vorschlag, es Ärzten aus religiösen oder sonstigen Gründen freizustellen, Andersgläubige oder LGBTQ-Patienten abzulehnen, wollen sie mittlerweile die Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln und fordern die Verhaftung des Oppositionsführers.

Das zentrale Projekt aber ist die geplante Justizreform. Dadurch könnte eine Mehrheit im Parlament willkürlich Gesetze verabschieden, selbst wenn sie nach Ansicht des höchsten Gerichts gegen die israelischen Grundgesetze verstößt. Das Kommunikationsministerium des Netanjahu-Kabinetts möchte darüber hinaus die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt "Kan" zerstückeln.

Hass von rechts: "Alle Linken sind Verräter" steht auf diesem Schild.

Hass von rechts: "Alle Linken sind Verräter" steht auf diesem Schild.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

"Solche Reformen würden die israelische Demokratie in dunkle Zeiten versetzen", sagt Gadi Wolfsfeld, der am Institut für Kommunikation der Reichman-Universität in Herzlia lehrt. "Demnächst werden sie auch die Zeitungen und das Internet kontrollieren wollen."

Der Medienexperte sieht Parallelen zur Türkei und Ungarn. Beide entwickelten sich unter dem Deckmantel der Neuordnung zu illiberalen Demokratien, in denen Meinungs- und Oppositionsfreiheit nur noch eingeschränkt funktionieren.

Mehrheit der Israelis sieht ihre Demokratie in Gefahr

"Kan ist der Regierung ein Dorn im Auge", erklärt Wolfsfeld. "Sie wollen kein Kulturprogramm finanzieren, das sie kritisiert." Dennoch hofft er, dass der Premierminister sich der öffentlichen Reaktion Israels und der internationalen Gemeinschaft beugt: "Netanjahu weiß, dass er dadurch international und national einen Preis zahlen wird."

Die meisten Israelis glauben inzwischen, dass ihre Demokratie in Gefahr ist. Der Angriff auf viele Institutionen ist nicht nur das alarmierende Ergebnis einer rechtsextremen Regierung. Er stellt in hohem Maße ihre Daseinsberechtigung dar. Die Abschaffung der Gewaltenteilung und des öffentlich-rechtlichen Senders würde es der Koalition erleichtern, ihre Agenda zu verwirklichen: Siedlungsausbau und Annexion. Neben dieser Debatte fragen sich immer mehr, ob Israel nicht endlich reif für eine Verfassung wäre. Denn ähnlich wie etwa Großbritannien hat Israel keine echte Verfassung, sondern eine Reihe von Grundgesetzen. Ohne schriftlich kodifizierte Verfassung, so lautet ein Argument, ist die Demokratie nicht gut genug vor einer Regierung geschützt, die diese nicht respektiert.

"Anstatt demokratischer wurde Israel immer jüdischer", sagt Moshe Halbertal vom Institut für jüdisches Denken der Hebräischen Universität in Jerusalem. "Die politische Rechte propagierte immer, dass die Palästinenser niemals Israel akzeptieren werden, und deshalb ergriff man alle notwendigen militärischen Mittel. Inzwischen hat sich ihre Überzeugung zu einem Ultranationalismus entwickelt, der nicht nur einen palästinensischen Staat ablehnt, sondern auch jeden israelischen Araber als potenziellen Terroristen betrachtet."

"Geeint durch Hass und Rache"

Der Philosophie-Professor sieht darin eine Verschiebung der Position der Rechten in Israel. Baute deren politische Identität zunächst auf dem Schutz vor äußeren Feinden auf, so konzentriert sie sich zunehmende auf angebliche innere Feinde. Daneben geht es der neuen Regierung um die Zukunft des Judentums in Israel. Halbertal betont, dass die Unterdrückung von Minoritäten mit der heiligen Schrift des Judentums nicht vereinbar ist: "Die Tora steht für die Gleichheit aller Menschen, auch für die Minderheiten des jüdischen Staates."

Mittlerweile nehmen die Demonstrationen unerwartet an Fahrt auf. Teilnehmer kommen aus allen möglichen Schichten. Sogar Unternehmen haben sich ihnen angeschlossen. Hightech-Firmen wandern ins Ausland ab, was ein großer Schaden für die israelische Volkswirtschaft ist. Sogar landesweite Generalstreiks sind geplant, einschließlich Flughäfen und öffentliche Verkehrsmittel.

"Diese Koalition, geeint durch Hass und Rache gegen innere Feinde, kann unmöglich mit Bedrohungen fertig werden, denen Israel ausgesetzt ist", sagt Jakov Eitan beim Treffen in Tel Aviv. "Sie werden auseinanderbrechen. Die Frage ist nur, zu welchem Preis."

Der Veteran der "Altalena"-Affäre hofft auf ausländischen Druck vor allem von Israels Freunden. "Gemeinsam können wir den jüdischen Staat vor sich selbst retten", sagt er. "Patriotismus bedeutet auch, sein Land trotz seiner Politiker zu lieben und seine Demokratie zu schützen."

Quelle: ntv.de

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