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PolitikEuropa

Frontex missachtet EU-Recht

21. Oktober 2022

Verstöße gegen die Menschenrechte, Machtmissbrauch, Einschüchterung - der OLAF-Bericht zur EU-Grenzschutzagentur Frontex fällt verheerend aus. Auch Griechenland steht im Fokus.

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Griechenland Grenzkontrollen Frontex Kontrollraum
Kontrollraum des griechischen Grenzschutzes am EvrosBild: Nicolas Economou/NurPhoto/picture alliance

Der Frau mit dem strengen, blonden Pferdeschwanz steht die Nervosität ins Gesicht geschrieben an jenem Septembermorgen (19.09.2022) auf dem kleinen Flughafen von Alexandroupolis, einer strategisch wichtigen griechischen Hafenstadt, etwa 20 Kilometer entfernt von der türkischen Grenze. Die Frontex-Beamtin ist Einsatzleiterin der europäischen Grenzschutzagentur an der gut 200 Kilometer langen Grenze am Fluss Evros. Wie an anderen europäischen Außengrenzen berichten Asylsuchende auch hier von Polizeigewalt und illegalen Pushbacks.

Da sich die Medien meistens auf die Seegrenzen vor den Inseln Lesbos und Samos konzentriert haben, waren Frontex und die griechischen Grenzschützer bei ihrer Arbeit am Evros bisher ungestört. Nun aber steht die Beamtin vor einer Gruppe Journalisten und Journalistinnen, die vier EU-Parlamentarier bei ihrer "Fact-Finding Mission" begleiten. Eine von ihnen ist die Niederländerin Tineke Strik, Grünenpolitikerin sowie Professorin für Staatsbürgerschaft und Migration. Sie ist eine der bekanntesten Kritikerinnen von Frontex und gehört zu den wenigen europäischen Gesetzgeberinnen, die Länder wie Griechenland, Ungarn oder Kroatien offen dafür kritisieren, Schutzsuchenden mit allen Mitteln den Zugang zu den europäischen Asylsystemen zu verwehren - auch, indem man Menschen gewaltsam an der Grenze abwehrt.

Die Juristin und EU-Abgeordnete Tineke Strik schaut am Grenzfluss Evros in Griechenland durch ein Fernglas
Die Juristin und EU-Abgeordnete Tineke Strik am Grenzfluss Evros in GriechenlandBild: Florian Schmitz/DW

Frontex ist mit 62 Beamten und vier Übersetzern am Evros im Einsatz. Auf Fragen der Journalistinnen und Journalisten zu Menschenrechtsvergehen in ihrem Einsatzgebiet antwortet die Einsatzleiterin: "Frontex ist nicht in allen Gebieten präsent. Wir planen den Einsatz unserer Leute aufgrund der Anfrage des Mitgliedsstaates." Später sagt sie: "Sie müssen verstehen, dass wir unsere Aktivitäten hier immer unter dem Kommando und der Leitung unserer griechischen Kollegen durchführen."

Dann fragt Tineke Strik, ob Frontex von griechischen Kollegen konkret Zutritt zu Gebieten gefordert habe, in denen Pushbacks stattfänden. Eine andere Beamtin zögert kurz und antwortet dann: "Uns wird der Zutritt zu bestimmten Gebieten nicht verweigert, aber unsere Einsatzkräfte sind auf bestimmte Arbeitsbereiche beschränkt. Die griechischen Behörden wissen besser, welche Bedürfnisse sie haben."

OLAF-Bericht zu Anschuldigungen gegen Frontex

Frontex steht schon lange in der Kritik. Der 2004 gegründeten EU-Grenzschutzagentur werden Verstöße gegen Menschenrechte und illegale Rückführungen von Flüchtlingen vorgeworfen. Im Frühjahr 2022 trat Frontex-Direktor Fabrice Leggeri zurück. Ein brisanter Bericht des EU-Amtes für Betrugsbekämpfung, OLAF, der schon zu Beginn des Jahres fertiggestellt wurde und nun vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel und der NGO Frag den Staat veröffentlicht wurde, macht deutlich, warum. Frontex soll verantwortlich sein für die Irreführung von Gremien, die Einschüchterung von Mitarbeiten und das vorsätzliche Vertuschen von Straftaten.

EU-Frontex-Direktor Fabrice Leggeris, hier nach einem Treffen mit EU-Innenministern in Brüssel im Jahr 2019
Inzwischen zurückgetreten: der ehemalige Frontex-Direktor Fabrice LeggeriBild: Virginia Mayo/AP Photo/picture alliance

Monatelang hatten Ermittler von OLAF Verdachtsfälle untersucht, Mitarbeiter und Geschädigte befragt, Daten ausgewertet, E-Mails und WhatsApp-Chats analysiert. Sie wiesen nach, dass Grenzschützer bei illegalen Rückführungen an den europäischen Seegrenzen bewusst weggeschaut hatten oder entsprechende Berichte von Führungsoffizieren zurückgehalten wurden. Aus Chat- und E-Mailverkehr von Frontex-Mitarbeitern geht hervor, dass Vorfälle verharmlost und vertuscht und dem für die Grundrechte zuständigen Beamten vorenthalten wurden.

Massenweise Verstöße gegen Grundrechte

Die Liste der Verstöße gegen EU-Recht, Völkerrecht, das Seerecht und die eigenen Vorschriften ist lang. Omer Shatz, Menschenrechtler und juristischer Leiter der NGO Front-LEX fordert, Frontex sofort von der griechisch-türkischen Grenze abzuziehen: "Der Direktor muss einen Einsatz abbrechen, sobald ernsthafte oder regelmäßige Verstöße gegen das Menschenrecht vorliegen, die in Zusammenhang mit den Aktivitäten von Frontex stehen." Der OLAF-Bericht enthülle, dass Frontex von zahlreichen Verbrechen wusste und diese vertuschte, sagt Shatz der DW.

"Es gibt massenhaft Beweise zu Pushbacks und sogar Todesfälle; Menschen, die starben, weil man ihnen ihre Kleidung abnahm, eine sehr verbreitete Praxis", betont Shatz. Trotz der erdrückenden Beweislast beharren die griechischen Behörden weiter darauf, dass sie sich an den Außengrenzen an geltendes Recht halten. Auch Frontex selbst will keine Verantwortung übernehmen. Shatz sieht darin eine Strategie: "Jedes Mal, wenn man die griechische Regierung konfrontiert, sagt sie: Wir setzen nur Frontex-Regularien um", kritisiert Shatz. Somit legitimiere und unterstütze die Grenzschutzagentur mit ihrem Einsatz die systematischen Gesetzesbrüche der griechischen Behörden."

Wenig Hoffnung auf Besserung

Konservative EU-Parlamentarierinnen wie die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson sehen nach dem Ausscheiden des ehemaligen Direktors Leggeri sowie zwei weiteren hochrangigen Mitarbeitern keinen Bedarf, Frontex-Einsätze ganz zu beenden oder die Agentur weiter zu reformieren. Für Tineke Strik ist das ein Fehler. Sie fordert transparente Verfahren, unabhängige Kontrollen sowie vollen Zugang zu sensiblen Gebieten: "Frontex muss von dem Mitgliedsland, in dem der Einsatz stattfindet, volle Kooperation bei Untersuchungen und vollständigen Zugang zu den Gebieten und den verfügbaren Informationen des gemeinsamen Einsatzes einfordern."

Die EU-Parlamentarier Tineke Strik (Mitte), Saskia Bricmont (links) und Erik Marquardt bei einer Pressekonferenz in Athen am 20.9.2022
Die EU-Parlamentarier Tineke Strik (Mitte), Saskia Bricmont (links) und Erik Marquardt bei einer Pressekonferenz in Athen am 20.9.2022Bild: Florian Schmitz/DW

Die Frontex-Grenzschützer selbst erklärten bei dem Treffen mit den EU-Parlamentariern am Evros, dass der für Grundrechte zuständige Beamte keinen Zugang zu militärischem Sperrgebiet habe. Dort aber finden die Pushbacks statt. Auch Strik und ihren Parlamentskollegen wurde bei ihrem Besuch am Evros der Zugang verwehrt. "Frontex ist nur da im Einsatz, wo keine Pushbacks stattfinden, und die griechischen Behörden können tun, was sie wollen", sagt Strik der DW.

Sie fordert mehr offene Kritik von der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten, die im Verwaltungsrat von Frontex vertreten sind. Man könne keine substantiellen Verbesserungen erwarten, wenn man diese Pushbacks stillschweigend akzeptiere: "Mitgliedsstaaten müssen offen jene EU-Länder kritisieren, die ständig mit Vorwürfen von Pushbacks konfrontiert werden." Mit 754 Millionen Euro (im Jahr 2022) ist keine EU-Agentur besser finanziert als Frontex. Dies müsste laut Strik an Bedingungen geknüpft werden: "Die EU-Kommission sollte die Finanzierung von Grenzschutz an die Einhaltung von Menschenrechten knüpfen."

Porträt eines Mannes mit braunen Haaren und Bart
Florian Schmitz Reporter mit Schwerpunkt Griechenland