Urteil aus Strassburg: Die «Doppelgänger» am polnischen Verfassungsgericht sind illegal

Laut dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ist Polens Höchstgericht seit der Justizreform der PiS-Regierung widerrechtlich zusammengesetzt. Die Folgen sind dramatisch: Aus Brüsseler Sicht gibt es in Polen kaum noch ein Gericht, das ordentlich Recht sprechen kann.

Meret Baumann
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Demonstranten in Warschau protestieren im Februar 2016 gegen die Justizreform der PiS und die Unterwerfung des Verfassungsgerichts.

Demonstranten in Warschau protestieren im Februar 2016 gegen die Justizreform der PiS und die Unterwerfung des Verfassungsgerichts.

Sean Gallup / Getty

Die von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit ihrer Machtübernahme vor gut fünf Jahren vorangetriebene Justizreform lässt Polen immer weiter ins juristische Chaos abgleiten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) – eine Institution der EU, die über die Einhaltung des Unionsrechts wacht – hat schon mehrmals bedeutende Aspekte dieser Reform für unzulässig erklärt.

Nun hat sich mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg aber erstmals ein internationales Gericht mit dem polnischen Verfassungsgericht befasst, das die PiS Ende 2015 als allerersten Schritt unter ihre Kontrolle brachte. Der Befund ist so logisch wie niederschmetternd: Die damals von der Regierungsmehrheit geänderte Zusammensetzung des Gerichts erfolgte widerrechtlich, und von den betroffenen Richtern erlassene Urteile sind ungültig.

Zahlreiche Urteile sind anfechtbar

Die Regierungspartei hatte damals die rechtmässige Ernennung von drei Verfassungsrichtern noch durch die Vorgängerregierung kurzerhand aufgehoben und selbst drei Magistraten bestimmt – ein Akt, den das Verfassungsgericht selbst als Verstoss gegen das Grundgesetz qualifizierte. Dieses Urteil ignorierte die Regierung jedoch stets und unterliess die Veröffentlichung.

Den drei neuen Richtern, die in Polen «Doppelgänger» genannt werden, wurden zunächst keine Fälle zugewiesen. Das änderte sich jedoch unter Julia Przylebska, die dem Verfassungsgericht seit Ende 2016 vorsitzt und eine enge Vertraute des mächtigen PiS-Chefs Jaroslaw Kaczynski ist. Seither sprechen auch die «Doppelgänger» Recht, obwohl sie ihre Position nach verbreiteter Ansicht widerrechtlich einnehmen. Experten hatten immer darauf hingewiesen, dass alle von diesen Richtern gefällten Urteile damit unter einem Vorbehalt stehen und anfechtbar sind. Die Klagen vor dem Verfassungsgericht gingen in den letzten Jahren denn auch drastisch zurück. Das Gremium wird nicht mehr als unabhängige letzte Instanz angesehen.

Diese Sicht hat der EGMR nun bestätigt. Konkret ging es im beurteilten Fall um das Unternehmen Xero Flor, das Rollrasen herstellt und beim Staat eine Entschädigungszahlung geltend machte. Es scheiterte damit aber in allen Instanzen. Die Firma gelangte schliesslich ans Verfassungsgericht, weil sie auch die Verfassungsmässigkeit eines in der Sache relevanten Gesetzes anzweifelte. Dieses wies die Klage 2017 knapp ab, wobei an dem Entscheid auch einer der drei «Doppelgänger» mitgewirkt hatte. Aus diesem Grund zog Xero Flor das Verfahren nach Strassburg weiter und machte geltend, der entsprechende Richter sei nicht rechtmässig gewählt.

Der EGMR bejahte dies und stellte eine Verletzung des in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten Anspruchs von Xeno Flor auf rechtliches Gehör vor einem ordentlichen Gericht fest. Die Bedeutung dieses Urteils geht aber weit darüber hinaus. Es heisst, dass jeder Entscheid des Verfassungsgerichts in den letzten Jahren, an dem ein «Doppelgänger» mitgewirkt hat, ungültig ist. Polens Verfassungsgericht ist mithin ein gemäss der EMRK widerrechtlich zusammengesetztes Gremium. Das ist beispiellos in der Europäischen Union, zu deren Recht auch die EMRK gehört.

Dramatische Erosion der Rechtsstaatlichkeit

Die Justizreformen der PiS haben damit bewirkt, dass es aus europäischer Sicht in Polen kaum noch ein Gericht gibt, das ordentlich Recht sprechen kann. Das ist eine dramatische Erosion der Rechtsstaatlichkeit, wenn man überhaupt noch von einer solchen sprechen kann. Der Weg zu einer Wiederherstellung wird immer steiniger und wird viel Zeit brauchen.

Voraussetzung dafür wäre ohnehin ein politischer Wille, der derzeit nicht ersichtlich ist. Vielmehr ignoriert Warschau Entscheide des EuGH: Die Disziplinarkammer am Obersten Gericht etwa, die laut einer Verfügung aus Luxemburg ihre Tätigkeit längst hätte einstellen müssen, arbeitet unbeirrt weiter. Die Regierung hat dem Verfassungsgericht nun die Frage vorgelegt, ob die EuGH-Verfügung nicht polnisches Recht verletze. Das Urteil wird für nächste Woche erwartet, und es dürfte im Sinne der Regierung ausfallen. Nur ist mit dem EGMR-Entscheid noch eindeutiger, dass dies keine Klärung bedeuten kann: Es ist ein illegal zusammengesetztes Gericht, das über den Vorrang von EU-Recht entscheiden soll.

Allerdings ist nicht zu erwarten, dass Warschau aus dem EGMR-Urteil Konsequenzen ziehen wird. Die Verfassungsgerichtspräsidentin Przylebska behauptete, Strassburg habe ohne Rechtsgrundlage entschieden und seine Kompetenzen überschritten. Der Entscheid sei in Polen wirkungslos.

Die Lage könnte kaum verfahrener sein, und Brüssel sind die Hände gebunden. Ein bereits 2017 in die Wege geleitetes Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge liegt faktisch auf Eis, weil eine Verurteilung Einstimmigkeit erfordert und Ungarn blockiert. Und gegen den kürzlich beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus, der für Verstösse gegen die Grundwerte eine Kürzung der EU-Gelder vorsieht, haben Warschau und Budapest vor dem EuGH geklagt. Bis zu einem Entscheid wird es noch lange dauern.

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