Ein Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention ist nach einem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts in Warschau nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg habe daher keine Grundlage, die Rechtmäßigkeit der Ernennung polnischer Verfassungsrichter zu prüfen, urteilte das Gericht.

Konkret geht es um Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die von 47 Staaten unterzeichnet wurde, darunter auch Polen. "Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten (...) oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren (...) verhandelt wird", heißt es darin.

Dieser Artikel dürfe aber vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht angewandt werden, um die Unabhängigkeit der Richter am Verfassungsgericht zu prüfen, heißt es in dem Urteil. Denn Grundlage der Unabhängigkeit der Verfassungsrichter seien "die polnische Verfassung und andere Gesetze". In seiner Urteilsbegründung sagte der Verfassungsrichter Wojciech Sych: "Man kann den Verfassungsgerichtshof nicht als Gericht betrachten." Somit müsse Polen auch ein bestimmtes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht umsetzen.

"Urteil ist beispiellos"

Der Europarat zeigte sich angesichts der Entscheidung besorgt. "Das heutige Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist beispiellos und gibt Anlass zu ernster Besorgnis", sagte Generalsekretärin Marija Pejčinović Burić. Alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarats hätten sich verpflichtet, "die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten".

Auch die polnische Oppositionspolitikerin Kamila Gasiuk-Pihowicz kritisierte das Urteil. "In Russland wählt das Verfassungsgericht auch die Urteile aus, an die es sich halten will", sagte sie. Polen habe die Europäische Menschenrechtskonvention vor 30 Jahren unterzeichnet, nun versuche die Regierung, das Land "aus der Gruppe der demokratischen Länder zu drängen".

Polens nationalkonservative PiS-Regierung baut seit Jahren das Justizsystem um. Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung in Warschau eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht.

Die Behörde hat auch Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts, das nun dieses Urteil fällte. Vorsitzende ist Julia Przyłębska, enge Vertraute von PiS-Chef Jarosław Kaczyński. Kürzlich hatte dieses Gericht den Vorrang des nationalen Rechts vor EU-Recht festgestellt.

Die jetzige Entscheidung des Verfassungsgerichts bezieht sich auf ein Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs vom 7. Mai 2021. Die Firma Xero Flor hatte geklagt, nachdem das polnische Verfassungsgericht ihren Fall abgelehnt hatte. Weil es Zweifel an der rechtmäßigen Ernennung eines der Richter gab, die diese Entscheidung getroffen hatten, rief die Firma das Gericht in Straßburg an. Dieses gab dem Kläger Recht und sprach ihm eine Entschädigung zu.