Informieren Israel und besetzte Gebiete 15. Februar 2022

Fragen und Antworten zum Bericht "Israel's Apartheid against Palestinians"

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht

Seit der Gründung der Organisation hat Amnesty International stets mit Blick auf die Universalität der Menschenrechte gehandelt und dabei ohne Rücksicht auf Verantwortliche Menschenrechtsverletzungen benannt. Dabei hat Amnesty polarisierende Themen nie gescheut und hat sich der Diskussion gestellt. Auch jetzt haben wir einen Bericht veröffentlicht, der zu Zuspruch, aber auch Widerspruch und Ablehnung geführt hat. Wir begreifen uns als lernende Organisation, insoweit sind Rückmeldungen für uns hilfreich und wir setzen uns mit Kritik ernsthaft auseinander. Im Folgenden erläutern wir einige Hintergründe zur Entstehung und Erkenntnisse des Berichts und gehen auf Teile der kritisierten Punkte ein.

Wie arbeitet Amnesty International?

Amnesty International ist unabhängig von Regierungen, Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen. Aufgabe der Menschenrechtsorganisation ist es, Menschenrechtsverletzungen auf Grundlage universell gültiger Menschenrechte und im Rahmen des internationalen Rechts zu untersuchen und zu benennen – unabhängig und ohne Ansehen von Verantwortlichen und Betroffenen. Amnesty International führt in allen Teilen der Welt Recherchen durch und setzt sich überall für die Menschenrechte ein. In diesem Rahmen entstehen jährlich eine Vielzahl an Berichten zu einzelnen Ländern, die mit konkreten Forderungen an die verantwortlichen Regierungen und die internationale Staatengemeinschaft verknüpft sind.

Wie entsteht ein Amnesty-Bericht, wie recherchiert Amnesty?

Amnesty-Expert_innen sind in zahlreichen Ländern und Krisengebieten unterwegs, um vor Ort die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen durch Regierungen und andere Akteure zu überprüfen. Sie sammeln Informationen über mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen und dokumentieren entsprechende Vorfälle sorgfältig. Sie sprechen mit Betroffenen und deren Angehörigen, mit Anwält_innen, Ärzt_innen sowie Vertreter_innen der Regierung und der Zivilgesellschaft, manchmal auch mit Täter_innen. Dabei steht nicht die Menge der Information im Mittelpunkt, sondern die Qualität. Die eigentliche Ermittlungsarbeit besteht darin, anhand von Beweisen und Belegen die Aussagen zu verifizieren.

Die Bandbreite der Themen und Länder der Amnesty-Recherchen ist groß: Allein im November 2021 hat Amnesty unter anderem Berichte zur rechtswidrigen Zwangsräumung einer indigenen Gemeinschaft im Osten Ugandas veröffentlicht oder zu den Massenprotesten im Iran im Jahr 2019, bei denen 324 Menschen, darunter Kinder, von Sicherheitskräften getötet wurden. Ebenfalls im November legten Amnesty-Berichte offen, wie es im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft in Katar um die Rechte von Arbeitsmigrant_innen steht oder um die Situation von Frauen und Mädchen in Nigeria, die sexualisierte Gewalt überlebt haben. (weitere Informationen: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/weltweit-engagiert-so-arbeitet-amnesty-international)

Auf welcher Grundlage ist der vorliegende Bericht entstanden?

Amnesty International führte zwischen Juli 2017 und November 2021 Recherchen und Analysen durch. Diese Recherchen nahmen die systematische Diskriminierung und Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten in den Fokus. Amnesty International hat die einschlägigen israelischen Gesetze, Verordnungen, Militärverordnungen, Richtlinien der Regierung und Erklärungen von Regierungs- und Militärvertreter_innen eingehend analysiert. Offizielle und öffentlich zugängliche Dokumente wie Material aus israelischen Parlamentsarchiven, Planungs- und Raumordnungsdokumente und -vorhaben, Regierungshaushalte und israelische Gerichtsurteile wurden von Amnesty International geprüft.

Amnesty International hat die jahrzehntelange eigene Dokumentation über Menschenrechtsverletzungen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten sowie die Berichte von UN-Agenturen und Menschenrechtsorganisationen mit den einschlägigen Bestimmungen zu Apartheid im internationalen Recht abgeglichen und analysiert.

Für die in dem Bericht vorgestellten Fallstudien führte Amnesty zwischen Februar 2020 und Juli 2021 Dutzende von Interviews mit Personen aus palästinensischen Gemeinden in Israel und den besetzten Gebieten durch. Zusätzlich wurden zahlreiche Vertreter_innen palästinensischer, israelischer und internationaler NGOs sowie UN-Agenturen, Wissenschaftler_innen und juristische Sachverständige konsultiert. Vor und während der Recherchen und der rechtlichen Analyse hat sich Amnesty International von externen Expert_innen für internationales Recht beraten lassen. Darüber hinaus haben Expert_innen für Apartheid im internationalen Recht die schriftliche rechtliche Argumentation und die Schlussfolgerungen im Berichtsentwurf geprüft.

Was sagt Amnesty dazu, dass die israelischen Behörden diese Maßnahmen ergriffen haben, um den Staat vor Bedrohungen zu schützen?

Alle vom Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser_innen betroffenen Menschen haben ein Recht auf ein Leben in Sicherheit, ihre Familien haben ein Recht darauf, angstfrei leben zu können. Amnesty International fordert deshalb alle Konfliktparteien auf, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und Menschenrechte zu respektieren. Der vorliegende Bericht ist jedoch keine Analyse des Konflikts zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen. Unsere Recherche untersucht die institutionelle Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung in Israel und den besetzten Gebieten.

Wie jedes Land hat auch Israel das Recht – und nach internationalem Recht - sogar die Pflicht, alle Menschen unter seiner Kontrolle zu schützen und die Sicherheit seines Territoriums zu gewährleisten. Sicherheitsrelevante Maßnahmen müssen im Einklang mit dem internationalen Recht stehen und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Die Sicherheit kann niemals eine Rechtfertigung oder ein Vorwand für Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein.

Die israelischen Behörden rechtfertigen jedoch viele ihrer in dem Bericht beschriebenen Maßnahmen mit Sicherheitsaspekten, darunter das Konfiszieren von Land, die Verweigerung von Planungs- und Baugenehmigungen, den Entzug von Aufenthaltsgenehmigungen, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und diskriminierende Gesetze, die das Familienleben der Palästinenser_innen einschränken.

Amnesty hat die von Israel angeführten Sicherheitsgründe untersucht und kommt zu dem Schluss, dass Sicherheitsbedenken oft als Vorwand für Maßnahmen dienen, deren Absicht es ist, die palästinensische Bevölkerung zu kontrollieren und ihre Ressourcen auszubeuten. Israel hält sicherheitsrelevante Informationen geheim, was oft bedeutet, dass Personen, deren Rechte im Namen der Sicherheit verletzt werden, keine echte Möglichkeit haben, diese Rechtsverletzungen anzufechten oder Entschädigung zu erhalten.

Warum nutzt Amnesty den Begriff der Apartheid, wohlwissend, dass er im nicht-juristischen Kontext sofort den Bezug zu Südafrika entstehen lässt?

Amnesty International analysiert die Situation gemäß der Definition des Verbrechens der Apartheid im internationalen Recht. Das Verbot und die Kriminalisierung des Systems der Apartheid waren zwar eine Reaktion auf die Situation in Südafrika, aber die Konventionen und Verträge, die das System verurteilen, verbieten und unter Strafe stellen, sind universell formuliert. Amnesty International möchte darauf hinweisen, dass Unterdrückungs- und Herrschaftssysteme niemals identisch sind und zieht deshalb auch keinen Vergleich zu der Situation in Südafrika.

Ist noch jemand zu dem Schluss gekommen, dass in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten Apartheid herrscht?

In jüngster Zeit haben die israelischen Menschenrechtsorganisationen Yesh Din und B'Tselem sowie die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Berichte veröffentlicht, in denen festgestellt wird, dass die israelischen Behörden Apartheid verüben. Der vorliegende Amnesty-Bericht nimmt Bezug auf eine wachsende Zahl von Arbeiten palästinensischer, israelischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen sowie von Anwält_innen und Wissenschaftler_innen, die die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten und/oder in Israel unter dem rechtlichen Rahmen der Apartheid untersucht haben.

Wie begegnet Amnesty International dem Vorwurf, einen Bericht zu veröffentlichen, der antisemitisch ist oder Antisemitismus befördert?

Den Vorwurf des Antisemitismus weist Amnesty International zurück. Amnesty wendet sich gegen jede Form von Diskriminierung ob aufgrund von Religion, Staatsangehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität oder anderen geschützten Merkmalen. Antisemitismus, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung stehen im Gegensatz zu den Menschenrechten.

Die Kritik von Amnesty an der israelischen Regierung stützt sich auf internationales Recht und auf konkrete Nachweise über Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser_innen. Amnesty kritisiert Gesetze, Verordnungen und deren Umsetzung durch die israelische Regierung und israelische Behörden, nicht die israelische Bevölkerung, nicht das jüdische Volk und nicht den Staat Israel als jüdischen Staat.

Amnesty nimmt die Gefahr einer möglichen Instrumentalisierung und des Schürens antisemitischer Ressentiments sehr ernst und stellt sich klar gegen alle Versuche, die Menschenrechte einzuschränken und Ressentiments zu schüren. Antisemitismus ist mit der Arbeit einer Menschenrechtsorganisation unvereinbar. Jeder Versuch, den Bericht auf diese Weise zu verwenden, würde ein inakzeptables falsches Verständnis des Auftrags von Amnesty International und der eigentlichen Botschaft dieses Berichts darstellen, die sich gegen Diskriminierung und Unrecht richtet.

Stellt Amnesty mit der Forderung nach einem Rückkehrrecht für Palästinenser_innen nicht die Existenz Israels als jüdischen Staat in Frage?

Das Recht auf Rückkehr ist geltendes internationales Recht (Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Art. 12 Abs. 4 des UN-Zivilpakts). Darüber hinaus hat sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der UN Resolution 194 vom 11. Dezember 1948 für das Recht der Palästina-Flüchtlinge auf Rückkehr ausgesprochen. Mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen im Mai 1949 hat Israel die Resolution 194 anerkannt.

Das Recht auf Rückkehr spielt auch in anderen Konflikt- und Flucht-/Vertreibungssituationen eine wichtige Rolle (Kosovo, Bosnien, Ruanda, Zypern u.a.). Bezüglich nachfolgender Generationen ist entscheidend, ob zwischen einer Person und dem Staat enge und dauerhafte Verbindungen bestehen (s. UN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 27). In der Praxis ist die Umsetzung des Rückkehrrechtes von Flüchtlingen häufig sehr komplex, auch das gilt für eine Vielzahl von internationalen und innerstaatlichen Konflikten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Menschen, die sich dafür entscheiden nicht zurückzukehren, ein Recht auf Wiedergutmachung zusteht. Als Menschenrechtsorganisation können wir diesen Anspruch nicht außen vorlassen.

 

Eine deutsche Zusammenfassung des Berichts "Israel's Apartheid against Palestinians" ist hier zu finden.

Lies hier den Text "Menschenrechte schützen, Antisemitismussensibilität stärken"

Hier findest du auf amnesty.org den Amnesty-Bericht "Israel's Apartheid against Palestinians"

 

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