Im konservativen Lateinamerika lockern immer mehr Staaten die Regeln für Schwangerschaftsabbrüche – doch es gibt mächtige Gegenbewegungen

Kolumbiens Verfassungsgericht hat Abtreibungen legalisiert. Nach Argentinien und Mexiko sind nun in sechs Ländern Lateinamerikas Schwangerschaftsabbrüche mit Auflagen erlaubt. Doch die katholische Kirche und die Evangelikalen stemmen sich in vielen Ländern erfolgreich gegen weitere Liberalisierungen.

Alexander Busch, Salvador
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Eine Kolumbianerin protestiert mit einem Kreuz in der Hand vor dem Verfassungsgericht in Bogotá gegen die Legalisierung der Abtreibung. Die Richter beschlossen, dass Schwangerschaftsabbrüche vor der 24. Woche in Zukunft erlaubt sind.

Eine Kolumbianerin protestiert mit einem Kreuz in der Hand vor dem Verfassungsgericht in Bogotá gegen die Legalisierung der Abtreibung. Die Richter beschlossen, dass Schwangerschaftsabbrüche vor der 24. Woche in Zukunft erlaubt sind.

Cristian Bayona / Imago

Das kolumbianische Verfassungsgericht hat am Montag entschieden, dass ab sofort keine Frau mehr wegen eines Schwangerschaftsabbruchs vor der 24. Woche verurteilt werden kann. Der Beschluss fiel mit 5 zu 4 Stimmen knapp aus.

Bisher war in Kolumbien ein Schwangerschaftsabbruch nur unter drei Umständen erlaubt: Vergewaltigung, Missbildung des Fötus oder Todesgefahr für die Mutter. Mit dieser Entscheidung wird Kolumbien zum sechsten Land in Lateinamerika, das den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert.

Das ist ein neuer Trend: Der Oberste Gerichtshof Mexikos hat in einer ähnlichen Entscheidung im September 2021 den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert. Der argentinische Kongress hat den Eingriff Ende 2020 legalisiert. Daneben haben auch Uruguay, Kuba und Guyana den Schwangerschaftsabbruch bereits bis zur 12. Woche gesetzlich erlaubt. Ecuador brachte in der vergangenen Woche ein Gesetz auf den Weg, das die Abtreibung zumindest nach einer Vergewaltigung ermöglicht.

Grüne Tücher sind zum Symbol geworden

Die Gerichtsentscheidung in Kolumbien wird von den Frauenbewegungen als Teil des radikalen kulturellen Wandels in Lateinamerika gefeiert – eine Region, die für ihren katholischen Glauben und ihren sozialen Konservatismus bekannt ist. Die Gesetzesänderungen wurden seit langem von feministischen Basisbewegungen und in den letzten Jahren auch von einer jüngeren Frauengeneration vorangetrieben. Die grünen Tücher, die sie bei den Demonstrationen vor den Parlamenten oder Gerichten schwenkten, sind zum Symbol der Abtreibungsbefürworterinnen in Lateinamerika geworden.

Befürworterinnen einer Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs demonstrieren ausserhalb des Verfassungsgerichts in Bogotá.

Befürworterinnen einer Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs demonstrieren ausserhalb des Verfassungsgerichts in Bogotá.

Daniel Romero / Imago

Doch in der Region mit der grössten katholischen Gemeinschaft weltweit wächst auch der Einfluss evangelikaler Kirchen in Politik und Justiz. Deswegen bleibt die Abtreibung nach wie vor ein stark polarisierendes Thema. Selbst in Ländern, in denen Abtreibungen nun erlaubt werden, sind grosse Teile der Zivilgesellschaft dagegen eingestellt. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos in Kolumbien ergab, dass zwar 82 Prozent der kolumbianischen Befragten Abtreibungen unter bestimmten Umständen befürworten, aber nur 26 Prozent sie in allen Fällen befürworten.

In Mexiko beispielsweise sind trotz dem Urteil des Obersten Gerichtshofs die meisten der Meinung, dass Abtreibungen nicht legal sein sollten. Viele mexikanische Mediziner lehnen es zudem aus moralischen Gründen ab, sie durchzuführen.

Das kolumbianische Verfassungsgericht ist nach Ansicht vieler Rechtsexperten liberaler als die – insgesamt eher konservative – Gesellschaft Kolumbiens. So ist auch die bis heute umstrittene Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe im Jahr 2016 auf eine Entscheidung des Gerichts zurückzuführen.

Deswegen sind weitere Konflikte bei der Umsetzung des Gerichtsbeschlusses in der allgemeinen Gesetzgebung vorprogrammiert: Abtreibungsbefürworter und -gegner, Gesetzgeber, Gesundheitsdienstleister und andere werden sich nun im Kongress darüber auseinandersetzen, wie die Entscheidung des Verfassungsgerichts weiter vorangetrieben werden soll.

Kostenlose Abtreibungen im staatlichen Gesundheitssystem?

Die konservative Regierung von Präsident Iván Duque hatte von Anfang an gefordert, dass nicht das Verfassungsgericht über die Schwangerschaftsabbrüche entscheiden solle, sondern der Kongress. So ist etwa noch völlig offen, ob Schwangerschaftsabbrüche künftig kostenlos in öffentlichen Krankenhäusern vorgenommen werden – wie es in Argentinien, Uruguay, Guyana, Kuba und einigen Teilstaaten Mexikos bereits der Fall ist.

Die jüngsten Entscheide zur Entkriminalisierung und Legalisierung in Lateinamerika kontrastieren mit der Gegenreaktion in anderen Teilen der Region: In Chile scheiterte ein Gesetz zur Liberalisierung der Abtreibung noch Ende 2021. In Brasilien versucht die Regierung des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro auf Druck ihrer evangelikalen Wählerbasis, Abtreibungen zu erschweren.

Zudem gibt es weiterhin Länder, in denen eine Abtreibung unter allen Umständen verboten ist, wie El Salvador, Honduras, die Dominikanische Republik, Jamaica, Surinam und Haiti. In El Salvador werden selbst Fehlgeburten mit drastischen Strafen belegt.

Der Wandel in Lateinamerika steht im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo mehrere konservative Gliedstaaten in den letzten Monaten Anti-Abtreibungsgesetze verabschiedet haben und der Oberste Gerichtshof bereit zu sein scheint, den verfassungsrechtlichen Schutz, den die Verfahren derzeit geniessen, zu beschneiden.

Nur Reiche können sich Schwangerschaftsabbrüche leisten

Bis heute ist die Praxis der Schwangerschaftsabbrüche in Lateinamerika auch ein Spiegel der sozialen Gegensätze: So haben wohlhabendere Frauen in den Städten die Möglichkeit, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Entweder weil sie den Arzt bezahlen, oder weil sie wissen, wie sie die Ausnahmeregelungen des Gesetzes nutzen können. Ärmere, weniger gebildete Frauen verfügen weder über das Wissen noch die finanziellen Mittel dafür. Das Guttmacher Institute, eine in New York ansässige Forschungsgruppe, die sich für Abtreibungsrechte einsetzt, schätzt, dass zwischen 2010 und 2014 fast ein Drittel aller Schwangerschaften in Lateinamerika mit einer Abtreibung endete.

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