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Wegen Messenger-App: Tausende in der Türkei zu Unrecht verurteilt

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In der Türkei waren Tausende aufgrund einer App auf ihrem Handy wegen Terrorismus verurteilt worden. Straßburg hat deswegen jetzt gegen die Türkei entschieden.

Straßburg – Mindestens 125.000 Beamte wurden nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei entlassen. Möglich machte das ein Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Viele der Betroffenen wurden vor Gericht gestellt und später wegen Terrordelikten verurteilt. Zehntausenden Beamten wurde vor allem die Messenger-App „ByLock“ zum Verhängnis. Rund 100.000 Urteile sollen im Zusammenhang mit der App gesprochen worden sein, schätzt der ehemalige Richter am Kassationshof (Yargitay), Kemal Karanfil.

Karanfil und 8500 andere Betroffene hatten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verklagt, weil sie von türkischen Gerichten wegen der App zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Karanfil wurde deswegen zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt und musste deswegen ins deutsche Exil fliehen.

Lehrer wird wegen Nutzung von Messenger-App wegen Terrorismus verurteilt

Eine der Klagen war die des türkischen Lehrers Yüksel Yalçınkaya, die die europäischen Richter herausgegriffen hatten. Der Lehrer wurde nach dem Putschversuch verhaftet und 2017 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die ByLock-App genutzt haben soll. Er sei Mitglied der Gülen-Bewegung und damit auch einer Terrororganisation. Die App sei der Beweis für die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, begründete das türkische Gericht ihr Urteil. Präsident Erdogan hatte nach dem Putschversuch die Bewegung um den in den USA lebenden Fethullah Gülen zur Terrororganisation erklärt.

In ihrem Urteil vom Dienstag haben die europäischen Richter dem Lehrer Recht gegeben. Die türkischen Gerichte dürfen die ByLock-App nicht mehr als pauschalen Beweis für Terrorismus ansehen, so der Grundtenor des Straßburger Urteils. Die Türkei wird sich dem Urteil beugen müssen, erklären Experten. „Das Urteil ist für die Türkei bindend. Das Urteil wird früher oder später von der Türkei umgesetzt werden – weil sie dazu verpflichtet ist“, sagt der Luxemburger Menschenrechtsexperte und Rechtsanwalt Hakan Kaplankaya, im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei erneut verurteilt.
Immer wieder rügt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei wegen Menschenrechtsverletzungen. © Jochen Tack/Imago

EGMR-Urteil für Türkei bindend

In der Praxis bedeutet das, dass auf die türkischen Gerichte viel Arbeit zukommt. „Das Urteil zwingt die Türkei, die Fälle der zu Unrecht Verurteilten neu aufzurollen“, sagt Kaplankaya. Ob die zu Unrecht in Gefängnis sitzenden jedoch freigelassen werden, wird sich zeigen müssen.

Karanfil sieht es ähnlich. „Das EGMR-Urteil ist für die Türkei bindend“, erzählt der ehemalige türkische Richter. Die türkischen Richter müssen jetzt vorsichtig sein, wenn sie das Urteil des EGMR nicht umsetzen. „Wenn die türkischen Richter das Urteil nicht umsetzten, machen sie sich selbst strafbar. In Zukunft müssen sie dann mit einer Anklage wegen Amtsmissbrauch rechnen“, so Karanfil.

Türkei verpflichtet sich vertraglich EGMR-Urteile umzusetzen

Und auch die Rechtsexpertin Professorin Serap Yazici sieht in einem Interview mit dem TV-Sender KRT keinen Ausweg für die Türkei, als das EGMR-Urteil umzusetzen. Ankara sei vertraglich dazu verpflichtet. Die Türkei hat 1954 die europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. 1987 hat sie das individuelle Recht für Klagen vor dem EGMR anerkannt. 1989 hat sie die Urteile der AGMR für bindend erklärt. Und 2004 hat die AKP-Regierung die EGMR-Urteile über das nationale Recht gestellt“, so Yazici.

„Kompetenz überschritten“: Türkischer Justizminister kritisiert EGMR

Justizminister Yilmaz Tunc zeigte sich über das Urteil aus Straßburg empört. „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Kompetenzen überschritten. Ich glaube nicht daran, dass dieses Urteil ein Präzedenzfall darstellt“, kommentierte Tunc das Urteil. Schließlich handele es sich beim Kläger um jemanden, der wegen Terrorismus verurteilt wurde und ins Ausland geflohen ist. Derzeit werde das EGMR-Urteil aber erst einmal noch detailliert geprüft werden müssen.

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