Vereinigte Staaten :
Supreme Court kippt Minderheitenschutz an Universitäten

Von Sofia Dreisbach, Washington
Lesezeit: 4 Min.
Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in Washington im Juni 2023
US-Universitäten dürfen Bewerber künftig nicht mehr wegen ihrer Ethnie bevorzugen. Laut den konservativen Richtern ist das verfassungswidrig. Die liberale Richterin Sotomayor warnt vor schweren Folgen der „Farbenblindheit“.

Es ist üblich, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Entscheidungen mit der größten politischen Sprengkraft ganz zum Ende seiner Sitzungsperiode Ende Juni bekannt gibt. So war es auch am Donnerstag, als die Richter mit einer konservativen Mehrheit von sechs zu drei Stimmen die sogenannte Affirmative Action kippten. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine jahrzehntealte Regelung, die historische Diskriminierung beseitigen und eine diverse Studentenschaft schaffen sollte. Universitäten und Hochschulen durften den ethnischen Hintergrund der Bewerber im Auswahlverfahren berücksichtigen. In Zukunft dürfen sie das nicht mehr.

In der Begründung des Obersten Gerichts heißt es, Studenten müssten nach ihrer Erfahrung als Individuum beurteilt werden, nicht aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds. „Viele Universitäten haben viel zu lange genau das Gegenteil getan“, schrieb der Vorsitzende Richter John Roberts. „Dabei sind sie fälschlicherweise zu dem Schluss gekommen, dass der Prüfstein für die Identität einer Person nicht die gemeisterten Herausforderungen, die erworbenen Fähigkeiten oder Erfahrungen sind, sondern die Hautfarbe.“ Das lasse die amerikanische Verfassungsgeschichte nicht zu. Das Urteil bedeute jedoch nicht, dass Universitäten künftig die Auswirkungen der ethnischen Herkunft auf den Werdegang eines Bewerbers nicht mit bedenken könnten. 

„Endemisch segregierte Gesellschaft“

Die linksliberale Richterin Sonia Sotomayor formulierte in einer Gegenmeinung heftige Kritik an der Entscheidung der konservativen Richter. Sie „zementiert eine oberflächliche Regel der Farbenblindheit als Verfassungsgrundsatz in einer endemisch segregierten Gesellschaft, in der die Rasse immer eine Rolle gespielt hat und weiterhin spielt“, schrieb die erste Latina am Obersten Gericht weiter. Das Ende der Affirmative Action werde ein ungerechteres Bildungssystem in den Vereinigten Staaten zur Folge haben. Diese „unvertretbare Auslegung der Verfassung“ untergrabe die Garantie des 14. Verfassungszusatzes für Gleichbehandlung.

Weiter hob Sotomayor auf die strukturelle Benachteiligung von People of Color ab: So würde deren Hautfarbe in Verdachtsfällen künftig eine Rolle spielen, nicht aber, wenn es um ein vielfältigeres Lernumfeld gehe. Die neueste Verfassungsrichterin und erste schwarze Frau auf diesem Posten, Ketanji Brown Jackson, schrieb in ihrer abweichenden Meinung von einer „Lasst sie Kuchen essen“-Mentalität unter den konservativen Richtern. Diese ordneten „Farbenblindheit für alle“ per Gerichtsbeschluss an. „Doch nur weil man die ethnische Herkunft vor dem Gesetz für irrelevant erklärt, wird sie das nicht im echten Leben“, schrieb Brown Jackson.

Biden zeigt sich schwer enttäuscht

Geklagt hatte die Organisation „Studenten für faire Zulassung“ gegen die private Harvard-Universität und die staatliche Universität North Carolina. Sie beriefen sich auf den Grundsatz der Gleichheit und Gerechtigkeit: Die Institutionen wendeten bei der Zulassung ethnisch diskriminierende Praktiken an, hieß es. Schwarze, Latinos und Indigene würden gegenüber Weißen und Personen mit asiatischen Wurzeln bevorzugt. Vorteile wegen der Ethnie seien „ungerecht, unnötig und verfassungswidrig“. Harvard argumentierte dagegen, der ethnische Hintergrund spiele immer noch eine Rolle in Amerika. Das zu ignorieren bedeute „die Realität zu ignorieren“.

Präsident Joe Biden bezeichnete die Entscheidung des Obersten Gerichts in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz als „schwere Enttäuschung“.  Diskriminierung existiere nach wie vor in den Vereinigten Staaten – daran ändere auch das Urteil nichts. Viele hätten jedoch eine falsche Vorstellung von Affirmative Action. Es würden nicht unqualifizierte Bewerber qualifizierten vorgezogen, sondern es gehe darum, jedem gleiche Chancen einzuräumen. Hochschulen seien stärker mit einer diversen Studentenschaft.

Viele ranghohe Republikaner zeigten sich erfreut über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Donald Trump schrieb, es sei ein „großartiger Tag für Amerika“. Endlich gehe es nur noch um Leistungen – „so sollte es sein!“. Sein Herausforderer im Rennen um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, Ron DeSantis, äußerte, das Gericht habe „Diskriminierung durch Universitäten und Hochschulen“ beendet.

Schwarze nachweislich benachteiligt

Die Harvard-Universität äußerte in einer Reaktion auf das Urteil, man werde in den kommenden Wochen und Monaten daran arbeiten, alternative Wege zu finden, „wie wir im Einklang mit dem neuen Präzedenzfall des Gerichtshofs unsere wesentlichen Werte bewahren können“. Dazu gehöre das Lehren, Lernen und Forschen in einer Gemeinschaft von Menschen unterschiedlicher Herkunft.

Die Ungleichheit schwarzer und weißer Amerikaner im Hinblick auf den akademischen Werdegang lässt sich in Zahlen messen. Schwarze, die rund 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, haben weitaus seltener einen Hochschulabschluss als Weiße. Laut dem „Postsecondary National Policy Institute“ hatten im Jahr 2021 22 Prozent aller Schwarzen über 25 Jahren einen Bachelor- oder einen höheren Abschluss – der nationale Durchschnitt liegt jedoch bei einem Drittel. Es ist außerdem wahrscheinlicher für schwarze Jugendliche, dass deren Eltern keine akademische Ausbildung haben. Ein Drittel der schwarzen Kinder unter 18 Jahren hatte 2021 mindestens ein Elternteil mit einem Bachelor oder einem höheren Abschluss. Bei weißen Kindern waren es 59 Prozent.

Was das für Konsequenzen haben dürfte, lässt sich schon jetzt in neun Bundesstaaten beobachten. In Kalifornien etwa dürfen staatliche Universitäten die Affirmative Action seit einem Referendum im Jahr 1996 nicht mehr anwenden. Die Zahl schwarzer und Latino-Studenten sank an der University of California infolgedessen um die Hälfte. Die Universität adressierte das Problem in einem Schreiben an das Oberste Gericht im Zusammenhang mit den beiden Klagen: Trotz alternativer Programme, die sich an Studenten aus einkommensschwachen Familien oder ohne akademischen Hintergrund richten, habe man „Schwierigkeiten“ eine ethnisch diverse Studentenschaft zu schaffen.