Erklärt

Die Regeln des humanitären Völkerrechts: Warum es sich in Butscha mutmasslich um Kriegsverbrechen handelt

Mit den Genfer Konventionen hat die Staatengemeinschaft versucht, die Barbarei von Kriegen etwas einzudämmen. Zentrales Prinzip ist der Schutz der Zivilbevölkerung. Ein Überblick über die wichtigsten Bestimmungen.

Meret Baumann
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Die Leiche einer Frau liegt in einer Küche. Aufnahme aus Butscha vom Dienstag.

Die Leiche einer Frau liegt in einer Küche. Aufnahme aus Butscha vom Dienstag.

Felipe Dana / AP

Die Bilder von getöteten Zivilisten sowie Berichte von Vergewaltigungen und Massengräbern aus Butscha haben weltweit Entsetzen ausgelöst. Der amerikanische Präsident Joe Biden nennt Wladimir Putin schon länger einen Kriegsverbrecher. In den vergangenen Tagen haben sich andere Politiker dieser Einschätzung angeschlossen. Die Hinweise, dass im Vorort von Kiew tatsächlich Kriegsverbrechen begangen wurden, sind mittlerweile äusserst dicht. Internationale Journalisten konnten sich die Lage vor Ort ansehen, und Zeugen stützen den Vorwurf, dass auch gezielt Zivilisten umgebracht wurden. Das wäre ein Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht und damit ein Kriegsverbrechen.

Als humanitäres Völkerrecht bezeichnet man den Teil des internationalen Rechts, der im Fall eines bewaffneten Konfliktes den Schutz von Menschen, Infrastruktur und Umwelt garantieren soll. Die Idee ist, dass selbst während der Barbarei eines Krieges die Grundsätze der Menschlichkeit gelten müssen. Ein fundamentales Prinzip ist deshalb dasjenige der militärischen Notwendigkeit: Militärische Massnahmen sind nur so weit zulässig, als sie nötig sind, um das strategische Ziel des Krieges zu erreichen.

Kernstück des humanitären Völkerrechts sind die vier Genfer Konventionen von 1949 und ihre Zusatzprotokolle. Mit 196 Unterzeichnerstaaten ist es das bisher einzige völkerrechtliche Vertragswerk mit universeller Gültigkeit.

1. Regeln gelten auch in einem illegalen Krieg

Seit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Gründung der Vereinten Nationen ist die Maxime des Völkerrechts, dass Kriege verhindert werden sollen. Das in der Uno-Charta verankerte Gewaltverbot sieht nur zwei Ausnahmen vor, in denen der Einsatz militärischer Mittel in einem anderen Staat zulässig ist: im Fall von Selbstverteidigung oder der Autorisierung durch den Uno-Sicherheitsrat. Auf den Ukraine-Krieg trifft beides nicht zu, der russische Überfall ist deshalb ein krasser Bruch des Völkerrechts. Das Recht zum Krieg (ius ad bellum) ist nicht gegeben.

Das ändert allerdings nichts daran, dass die militärischen Handlungen beider Seiten das Kriegsrecht (ius in bello) einhalten müssen. Das humanitäre Völkerrecht gilt also auch in einem unrechtmässigen Krieg, einem internen bewaffneten Konflikt und unabhängig davon, ob eine Kriegserklärung ausgesprochen wurde oder ob eine der Parteien den Kriegszustand nicht anerkennt.

2. Zivilisten sind geschützt

Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten ist die Grundregel des humanitären Völkerrechts. Kombattanten sind alle am militärischen Kampf gegen den Feind in irgendeiner Weise Beteiligten, neben den regulären Streitkräften also auch Milizen, Freiwilligenkorps oder Mitglieder von Widerstandsbewegungen. Ausgenommen ist medizinisches oder seelsorgerisches Personal der Streitkräfte.

Kombattanten müssen als solche erkennbar sein. Sie dürfen sich an Kampfhandlungen beteiligen und gegnerische Soldaten töten, sind aber selbst auch ein legitimes Ziel. Im Fall der Gefangennahme sind Kombattanten privilegiert zu behandeln, für die blosse Teilnahme am Krieg dürfen sie nicht bestraft werden.

Zivilisten sind dagegen vor kriegerischen Handlungen zu schützen und menschlich zu behandeln. Sie dürfen nicht getötet, gefährdet, gefoltert oder bedroht werden – unabhängig von ihrer Nationalität, Ethnie oder persönlichen Einstellung. Beteiligen sich Zivilisten an Feindseligkeiten – etwa wie in der Ukraine durch das Werfen von Molotowcocktails oder ähnliche Aktionen –, verlieren sie den Schutzstatus, aber nur für die Dauer dieser Handlung. Fällt die Zivilbevölkerung eines Gebiets unter die Kontrolle des Gegners, ist dieser verpflichtet, sie zu verpflegen und auch medizinisch zu versorgen.

Die Folge dieses Prinzips ist, dass Wohngebiete grundsätzlich nicht angegriffen werden dürfen. Geschieht das unter Beachtung der militärischen Notwendigkeit doch, muss Zivilisten zunächst die Möglichkeit zur Flucht oder Evakuierung geboten werden. Besondere Beachtung gilt laut den Genfer Konventionen schutzbedürftigen Personen wie Kindern, Verwundeten oder Kranken.

3. Auch bei militärischen Zielen ist Vorsicht geboten

Eine ähnliche Unterscheidung wie diejenige zwischen Kombattanten und Zivilisten gilt auch für öffentliche Einrichtungen. Zivil genutzte Objekte dürfen nicht angegriffen werden. Selbst militärisch relevante Einrichtungen sind nur dann legitime Ziele, wenn die Operation keine unverhältnismässig hohen Verluste unter der Zivilbevölkerung oder übermässigen Schaden an deren Umwelt und Versorgung anrichtet.

Aus diesem Grund müssen Spitäler, Kirchen, Schulen oder auch Wasserversorgungsanlagen als tabu gelten – es sei denn, es liegen Hinweise vor, dass die Objekte nicht mehr in ihrem eigentlichen Sinn genutzt werden, sondern zum Beispiel Soldaten als Rückzugsort dienen.

Die Beurteilung ist häufig ein Grenzfall, wie die russische Darstellung des Angriffs auf ein Spital in Mariupol zeigt, wonach sich eine rechtsextreme ukrainische Einheit dort verschanzt hat. Üblicherweise rein zivile Einrichtungen können im Kriegsfall plötzlich für Kampfhandlungen genutzt werden – etwa die Brauerei in Lwiw, die auf die Produktion von Molotowcocktails umstellte.

4. Nicht alle Waffen sind erlaubt

Das Prinzip des Schutzes von Zivilisten bedeutet auch, dass Waffen verboten sind, die unnötiges Leid verursachen und keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung ermöglichen. «Blinde Waffen» dürfen deshalb nicht eingesetzt werden. So sind zum Beispiel Streubomben geächtet, weil sie eine Vielzahl kleinerer Sprengkörper freisetzen, von denen ein Teil nicht sofort explodiert, sondern als Blindgänger liegen bleibt und schwer sichtbar ist. Über hundert Staaten haben die Konvention zum Verbot von Streumunition ratifiziert, Russland indes nicht.

Die Uno wirft dem Land vor, solche Waffen auch in bewohntem Gebiet der Ukraine eingesetzt zu haben. Das ist auch Nichtvertragsstaaten völkergewohnheitsrechtlich verboten. Moskau behauptet, es nehme nur militärische Ziele ins Visier, und dies ausschliesslich mit Präzisionswaffen. Als solche gelten Streubomben nicht.

Logischerweise völkerrechtswidrig sind Massenvernichtungswaffen wie biologische und chemische Kampfmittel, für beide Gattungen existieren auch entsprechende Übereinkommen. Eine Mehrheit der Experten hält darüber hinaus Atomwaffen für unzulässig, weil sie immer und langfristig Zivilisten in hoher Zahl treffen würden. Der Internationale Gerichtshof, das höchste Gericht der Uno, tat sich mit der Frage jedoch schwer, als er sie 1996 auf Anfrage der Generalversammlung zu beurteilen hatte. In seinem Gutachten hielt er fest, dass die Drohung mit oder der Einsatz von Nuklearwaffen im Allgemeinen dem humanitären Völkerrecht widerspricht. Er konnte sich aber nicht einigen, ob dies auch gilt in einem «Extremfall von Selbstverteidigung, in dem es um das Überleben des Staates geht».

5. Kriegsgefangene sind menschlich zu behandeln

Im Sinne einer späteren Versöhnung müssen Kombattanten, die dem Gegner in die Hände fallen, «jederzeit mit Menschlichkeit behandelt» werden. An ihnen dürfen keinerlei Racheakte verübt werden, weder körperlich noch seelisch. Auch die Beschimpfung und Zurschaustellung ist untersagt. Nach dem Ende des Krieges müssen sie sogleich freigelassen und in die Heimat überstellt werden.

Vor diesem Hintergrund sind die auch von ukrainischen Behörden verbreiteten Aufnahmen von russischen Soldaten bei Verhören oder in anderen demütigenden Situationen fragwürdig. Sie ermöglichen eine eindeutige Identifizierung der Personen, was laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ein Verstoss gegen die Genfer Konventionen ist.

6. Humanitären Organisationen ist Zugang zu gewähren

Die Umsetzung dieser Regeln liegt in der Verantwortung der Staaten, die ihre Streitkräfte auch entsprechend ausbilden müssen. Darüber hinaus kommt dem IKRK, das sich zu Unparteilichkeit und Neutralität verpflichtet hat, hohe Bedeutung zu. Es wird in den Genfer Konventionen als Kontrollorgan genannt. Vertretern des IKRK oder auch anderer humanitärer Organisationen ist in Kriegsgebieten Zugang zu Kranken und Verletzten zu gewähren, sofern sie nicht von den Konfliktparteien selbst angemessen versorgt werden.