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Abtreibungsrecht in den USA: Parlament in South Carolina verbietet Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche

Der konservativ ausgerichtete Supreme Court hat 2022 das fast fünfzig Jahre alte Grundsatzurteil «Roe v. Wade» aufgehoben. Damit gilt kein nationales Recht mehr auf Schwangerschaftsabbruch. In den USA ist damit ein Flickenteppich mit unterschiedlichen gliedstaatlichen Abtreibungsregeln entstanden.

Meret Baumann, Corina Gall
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Der Supreme Court ist in den USA der entscheidende Faktor im Abtreibungsrecht.

Der Supreme Court ist in den USA der entscheidende Faktor im Abtreibungsrecht.

Evelyn Hockstein / Reuters

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  • Der Gliedstaat South Carolina verbietet Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche. Das Parlament hat im Mai ein entsprechendes und umstrittenes Gesetz parteiübergreifend verabschiedet. Die einzigen fünf Frauen im Senat von South Carolina – unter ihnen drei Republikanerinnen – hatten vergeblich einen Kompromiss mit weniger strengen Vorschriften gefordert. Ende August hat das Oberste Gericht des Gliedstaates eine von einer untergeordneten Instanz verhängte Blockade des Gesetzes aufgehoben. Es gelten Ausnahmen bei Gefahr für das Leben der Schwangeren oder im Falle der Lebensunfähigkeit des Fötus. Opfer von Vergewaltigung oder Inzest dürfen zudem bis zur 12. Schwangerschaftswoche abtreiben. 
  • In North Carolina gilt seit dem 1. Juli eine Frist für Abtreibungen von 12 Wochen. Davon ausgenommen sind Schwangerschaften, die aus einer Vergewaltigung oder Inzest hervorgehen oder die für den Fötus oder die Schwangere lebensbedrohlich sind. Die Republikaner im Parlament überstimmten Mitte Mai mit knapper Mehrheit ein Veto des demokratischen Gouverneurs des Gliedstaates und verabschiedeten das Gesetz. Seit dem Ende von «Roe v. Wade» ist North Carolina damit der erste Gliedstaat, der zwar eine Einschränkung des Abtreibungsrechts beschliesst, aber nicht ein faktisches Verbot. Der Swing State hat damit eine Art Kompromisslösung, die mittelfristig auch anderen politisch gemässigt ausgerichteten Staaten als Vorbild dienen könnte. 

Wie steht es um das Abtreibungsrecht in den USA?

Das landesweite Recht auf Abtreibung in den ersten beiden Trimestern hat der Supreme Court im Juni 2022 gekippt. Er hob das berühmte Urteil «Roe v. Wade», das 1973 Schwangerschaftsabbrüche auf nationaler Ebene legalisierte, auf. Seither sind die 50 Gliedstaaten zuständig für die Regelung der Frage.

In gut einem Dutzend konservativ geprägter Gliedstaaten waren Schwangerschaftsabbrüche wegen zuvor beschlossener «Trigger Laws» sofort verboten. In anderen traten mit dem Entscheid des Gerichts alte Gesetze, teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert, wieder in Kraft. Kliniken mussten den Betrieb umgehend einstellen. Dagegen änderte sich in den demokratisch dominierten Regionen an den Küsten nichts: Gliedstaatliche Gesetze garantieren dort ein sehr weitgehendes Abtreibungsrecht über das Ende von «Roe v. Wade» hinaus.

Ein Jahr später hat sich an diesen auseinanderklaffenden Wirklichkeiten wenig geändert. Vor allem im Süden und im Mittleren Westen der USA sind Schwangerschaftsabbrüche ganz oder faktisch verboten, rund zwanzig Millionen Frauen im gebärfähigen Alter sind betroffen. Laut einer im April veröffentlichten Studie wurden in den ersten sechs Monaten seit der Aufhebung von «Roe v. Wade» durch den Supreme Court insgesamt gut 32 000 oder 6 Prozent weniger legale Abtreibungen verzeichnet als in der Zeit davor. Wo ein Verbot herrscht, gingen die Zahlen um mehr als 95 Prozent zurück. Sie nahmen dafür stark zu in Staaten wie Illinois oder Florida, die von restriktiven Regionen umgeben sind und wohin Betroffene auswichen.

Es gibt aber auch die gegenteilige Entwicklung: Michigan, Vermont und Kalifornien haben das Abtreibungsrecht bei Abstimmungen im November 2022 in ihren gliedstaatlichen Verfassungen verankert. Damit ist in 18 Gliedstaaten, darunter Kalifornien und New York, das Recht auf Abtreibung gesetzlich festgehalten.

Laut dem Guttmacher Institute, das hauptsächlich zur Abtreibungsfrage forscht, sind Abtreibungen ein Jahr nach dem Ende von Roe in 13 Gliedstaaten ganz verboten, in Wisconsin wegen Rechtsstreitigkeiten nicht möglich und in Georgia nach sechs Schwangerschaftswochen untersagt, also bevor viele Frauen überhaupt wissen, dass sie schwanger sind. In diversen weiteren Staaten sind Verbote geplant, aber derzeit gerichtlich blockiert.

Das Abtreibungsrecht in den USA gleicht einem Flickenteppich

Ist auch die Abgabe von Abtreibungspillen betroffen?

Auch für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch kommen die gliedstaatlichen Abtreibungsgesetze zur Anwendung. Wo der Eingriff verboten ist, ist auch der medikamentöse Abbruch untersagt. Die Durchsetzung der Gesetze ist aber viel schwieriger, weil die Pille per Post versendet werden darf und zu Hause gänzlich unbemerkt eingenommen werden kann. Selbst bei allfälligen Komplikationen, die einen Arztbesuch nötig machen, ist es nicht möglich, festzustellen, ob es sich um eine Fehlgeburt handelt oder um einen medikamentös ausgelösten Abort.

Abtreibungsgegner wollen deswegen den Zugang zur Abtreibungspille landesweit erschweren – und haben darum gegen die Zulassung des Abtreibungsmittels Mifepriston geklagt. Der Supreme Court hat jedoch im April entschieden, dass das Medikament vorläufig weiterhin für Abtreibungen eingesetzt werden darf. Zuvor hatte sich das amerikanische Justizministerium gegen den Entscheid eines Bundesrichters in Texas gewehrt, der die Zulassung landesweit aussetzen wollte. Ein definitiver Entscheid des Obersten Gerichts in dem Fall wird erst 2024 erwartet.

Die Administration Biden stellt infrage, ob das Medikament überhaupt verboten werden kann. Justizminister Merrick Garland erklärte, die Zulassung der nationalen Arzneimittelbehörde FDA habe gegenüber den Bestimmungen einzelner Gliedstaaten Vorrang. Diese Sicht ist unter Juristen jedoch umstritten. Klarer ist, dass der Versand per Post nicht verboten werden kann. Für die Post gilt nationalstaatliches Recht. Über alle diese Fragen wird wohl letztlich der Supreme Court entscheiden müssen.

Mehr als die Hälfte aller Abtreibungen in den USA wird medikamentös durchgeführt. Käme es zu einem landesweiten Verbot, würde damit auch der Schwangerschaftsabbruch in Gliedstaaten erschwert, in denen er eigentlich erlaubt ist. Zwar ist ein weiteres Arzneimittel zur Abtreibung, Misoprostol, verfügbar. Die Wirksamkeit des Medikaments, das normalerweise zusammen mit Mifepriston eingenommen wird, ist allein jedoch kleiner, und es kommt zu stärkeren Nebenwirkungen.

Die Jackson Women’s Health Organization, Mississippis letzte Abtreibungsklinik.

Die Jackson Women’s Health Organization, Mississippis letzte Abtreibungsklinik.

Rory Doyle / Reuters

Was sind die Konsequenzen für betroffene Frauen?

Der Zugang zu einer Abtreibungsklinik erschwert sich für Patientinnen durch das Ende von «Roe v. Wade» merklich. Laut einer Schätzung leben deswegen statt 1 Prozent der Bevölkerung nun 29 Prozent über 300 Kilometer von einem Anbieter entfernt.

Auch für den Zugang zur Abtreibungspille müssen Frauen in den konservativen Gliedstaaten nun weitere Strecken zurücklegen. Die Abtreibungspille ist regulär nur mit Rezept erhältlich. Ein solches kann in vielen Staaten zwar inzwischen auch nach einer telemedizinischen Beratung ausgestellt werden, aber der Anbieter macht sich strafbar, wenn Abtreibung am Standort der Patientin untersagt ist. Diese muss für die Konsultation deshalb über die Grenze in einen liberalen Staat reisen – und sei es nur für ein Telefongespräch.

Vor allem für sozial Schwache hat das gravierende Konsequenzen. Weite Reisen verursachen höhere Kosten – zumal in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Beschäftigten im Stundenlohn bezahlt wird. Grössere Distanzen haben zudem oft eine Abtreibung später in der Schwangerschaft zur Folge, was diese teurer und riskanter macht.

Was hat der Oberste Gerichtshof genau entschieden?

Der Supreme Court hat in einem Entscheid vom 24. Juni 2022 («Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization») die weitgehende Liberalisierung von «Roe v. Wade» und damit das nationale Recht auf Abtreibung aufgehoben. In den Augen von Samuel Alito, dem Autor des Entscheids, war das berühmte Urteil aus dem Jahr 1973 von Anfang an falsch.

Das mit dem Schutz der Privatsphäre begründete Recht auf Abtreibung habe keine Wurzeln «in der Geschichte und in den Traditionen der Nation», argumentiert Alito und schreibt weiter: «Es ist Zeit, die Verfassung zu beachten und das Thema Abtreibung an die gewählten Vertreter des Volkes zurückzugeben.» Fünf der sechs konservativen Richter trugen den Entscheid mit, die drei progressiven haben dagegen gestimmt.

Das Ende des im Vergleich zu europäischen Ländern sehr liberalen Rechts war keine Überraschung. Das mit der Amtszeit von Donald Trump immer konservativer ausgerichtete Oberste Gericht hatte entsprechende Hoffnungen der Republikaner genährt.

Beurteilt hatte das Gericht eigentlich ein Gesetz aus Mississippi, das Abtreibungen ab der 15. Schwangerschaftswoche verbot. Weil es gegen die Regelung von «Roe v. Wade» verstiess, wonach der Eingriff in den ersten beiden Trimestern der Schwangerschaft zulässig ist, wurde es bis vor den Supreme Court weitergezogen.

Mississippi und andere konservative Staaten hatten mit solchen offensichtlich verfassungswidrigen Gesetzen im Bereich Abtreibung versucht, ein neues Leiturteil des Supreme Court zu erwirken, das die liberale Praxis beendet. Nun haben sich die Hoffnungen der Konservativen erfüllt.

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Wie kam es zum Meinungsumschwung im Supreme Court?

Während seiner Präsidentschaft hatte Donald Trump die konservativen Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett ernannt. Amy Coney Barrett ersetze die progressive Richterin Ruth Bader Ginsburg. Damit verschob sich die Mehrheit im Gericht deutlich nach rechts. Gemeinsam halten die konservativen Richterinnen und Richter am Supreme Court nun sechs der neun Sitze.

Fünf der sechs konservativen Richterinnen und Richter sprachen sich dafür aus, die liberale Rechtsprechung bei den Abtreibungen aufzuheben. Der ebenfalls konservative Chief Justice wollte das Gesetz aus Mississippi zwar bestehen lassen, das fünfzig Jahre alte Präjudiz aber nicht aufheben.

Was bedeutet der Entscheid politisch?

Die Demokraten erhofften sich durch den Gerichtsurteil einen Aufschwung an den Wahlen im Herbst 2022, da die Mehrheit der Bevölkerung das Recht auf Abtreibung unterstützt. Einige demokratische Strategen hofften sogar, eine intensive Debatte über das Thema könnte sie von einem Verlust der Kongressmehrheiten bewahren. Im Senat konnten die Demokraten ihre hauchdünne Mehrheit denn auch verteidigen und einen Sitz dazugewinnen. Im Repräsentantenhaus sicherten sich jedoch die Republikaner die Mehrheit, jedoch nur knapp.

Dennoch schnitt die Partei in einem ungünstigen Umfeld mit sehr hoher Inflation und einem unpopulären Präsidenten weit über den Erwartungen ab. Die Abtreibungsfrage ist dafür ein wichtiger Grund und mobilisierte die progressiven Wählerinnen und Wähler offensichtlich.

Seit dem Ende von Roe wurden zudem in sechs Gliedstaaten Volksabstimmungen über die Regeln des Schwangerschaftsabbruchs durchgeführt. In allen unterlagen die Abtreibungsgegner mit der Forderung von Verboten – selbst in so konservativen Staaten wie Kentucky, Montana oder Kansas, die seit Jahrzehnten fast ausschliesslich republikanisch wählen.

Abtreibungsgegner unterliegen auch in konservativen Staaten

Stimmenanteil der Abtreibungsgegner in gliedstaatlichen Referenden seit dem Ende von «Roe v. Wade» im Vergleich zum Anteil Trump-Wähler in der Wahl 2020, in Prozent
Abtreibungsgegner
Trump-Wähler

Den Demokraten wird es dennoch nicht möglich sein, ein nationales Abtreibungsrecht zu beschliessen, wie es Präsident Joe Biden regelmässig propagiert. Sie haben im letzten Herbst die Mehrheit im Repräsentantenhaus verloren, und die nötige qualifizierte Mehrheit im Senat ist für beide Parteien vorläufig ausser Reichweite. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch auch für die Wahlen 2024 und das Rennen um das Weisse Haus zentral bleiben wird.

Warum ist die Abtreibung in den USA so umstritten?

Die Abtreibung ist in den USA nicht in einem nationalen Gesetz geregelt. Die Demokraten scheiterten zuletzt im Sommer 2022 mit dem Vorhaben, das Recht auf Abtreibung in einem Bundesgesetz festzuschreiben. Gliedstaaten kannten unterschiedlich restriktive Gesetze, bis die Frauenrechtsbewegung eine Liberalisierung verlangte. Es war das konservative Idol Ronald Reagan, das 1967 als Gouverneur Schwangerschaftsabbrüche in Kalifornien unter bestimmten Umständen erstmals legalisierte. Die Republikaner nahmen damals eine liberale Position ein: Der Staat sollte sich nicht einmischen.

1973 regelte der Supreme Court die Frage in «Roe v. Wade» für das ganze Land einheitlich. In den ersten beiden Trimestern der Schwangerschaft waren Abbrüche damit landesweit erlaubt. Diese im Vergleich mit europäischen Fristenregelungen sehr weitgehende Liberalisierung ist umstritten – und ausgerechnet Reagan macht sie in den achtziger Jahren zum Politikum, um die zuvor eher unpolitische religiöse Rechte an die Republikaner zu binden. Die Abtreibungsfrage ist seither eines der wichtigsten Themen des amerikanischen Kulturkampfs.

So konstant wie der politische Streit ist aber auch die Meinung der amerikanischen Bevölkerung. Das Institut Gallup führt seit dreissig Jahren Umfragen zur Abtreibung durch. Stets fanden rund 60 Prozent, die Regelung von «Roe v. Wade» solle unverändert gelten, während 30 Prozent sie ablehnen.

Eine konstante Mehrheit befürwortet das liberale Abtreibungsrecht

Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Leiturteil «Roe v. Wade», Anteil in Prozent
Befürworter
Gegner

Was bedeutet der Entscheid für weitere Fragen der Gleichberechtigung?

Die drei progressiven Richterinnen und Richter des Supreme Courts schrieben in ihrer Minderheitsmeinung, nun seien in den USA weitere Errungenschaften in Gefahr. Unter anderem fürchten sie, der Entscheid zur Legalisierung von Verhütungsmittel aus dem Jahr 1965, jener zu Ehen von Afroamerikaner mit Weissen aus dem Jahr 1967, jener zur Intimität von homosexuellen Paaren aus dem Jahr 2003 und jener zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus dem Jahr 2015 könnten nun im Supreme Court ebenfalls zur Diskussion stehen. All diese Entscheide wurden wie «Roe v. Wade» ebenfalls mit dem aus dem 14. Verfassungszusatz abgeleiteten Recht auf Privatsphäre begründet. Bestrebungen, diese Fragen ebenfalls vor das Gericht zu bringen, gibt es aber nicht.

US-Präsident Joe Biden kommentiert im Sommer 2022 den Entscheid des Supreme Court.

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