Liebe Leserin, lieber Leser,
es war wirklich ein Paukenschlag am letzten Freitag: Kardinal Marx bietet dem Papst seinen Rücktritt an. Stellvertretend für Viele in der Kirchenleitung will er Verantwortung tragen für das Versagen von System und Institution im Bereich des Umgangs mit den Verbrechen des sexuellen Mißbrauchs innerhalb der Kirche. "Wer ist 'Wir' ?", hat er sich gefragt, nachdem er immer wieder vom "Wir" der Kirche gesprochen hat. Und im Laufe der Zeit hat er erkannt, dass er als Bischof und prominentes Gesicht der katholischen Kirche in Deutschland zum "Wir" der Kirche stehen muss, die um der Selbsterhaltung willen mehr mit Vertuschung beschäftigt war, als mit der Sorge um die Betroffenen.
Das hat er jetzt klar gesagt, und dazu steht er. Sein Rücktrittsangebot an den Papst ist allein deshalb schon etwas Besonderes in der deutschen Kirche. Und weil es eben der Münchner Kardinal ist, und nicht irgendein unauffälliger Weihbischof, macht seine Entscheidung bei uns und in der Weltkirche mächtig Wirbel.
Man darf gespannt sein, wie der Papst reagieren wird. Auf Reinhard Marx generell zu verzichten, kann sich die Kirche in dieser Zeit eigentlich nicht leisten. Im Glauben und im Herzen ist er immer noch so "katholisch", wie wir ihn damals in Trier kennengelernt haben, als er dort 2002 Bischof wurde. Verbindlich, treu, gastfreundlich, überzeugt, aufrichtig, geradlinig, zielstrebig und motivierend. Dabei durchaus ein "Herr Bischof" mit allem Drum und Dran, das man so kennt aus früheren Zeiten.
Das ist nun aber schon lange her, und mit der sichtbaren Wirklichkeit der deutschen Kirche hat auch der Kardinal spürbar eine Veränderung durchgemacht. Seine eben genannten Eigenschaften hat er sicher alle behalten, aber "katholisch Kirche sein" hat spätestens seit 2010 neue Herausforderungen und Einsichten mit sich gebracht und in der Folge auch persönliche Veränderungsprozesse angestoßen. Nicht nur bei ihm. Vor allem erstmal an der Kirchenbasis und bei den Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die dort wirken. Zwischenzeitlich hatte man immer mal den Eindruck, auf der Ebene der Bischöfe (und in Rom sowieso) läuft alles unbeeindruckt wie bisher, frei nach dem Motto: "Es kommen auch wieder bessere Zeiten..."
Dass dem nicht so ist, hat Kardinal Marx schon recht früh gespürt und gesagt. Jetzt sieht er die Kirche am vielzitierten "toten Punkt" und setzt auch damit ein deutliches Zeichen: in die Kirche hinein, an seine Bischofskollegen - und nach Rom.
Den Menschen in der Kirche signalisiert er jetzt Ernsthaftigkeit in seinen Absichten, den anderen Bischöfen wird er zum Vorbild in der Frage nach Verantwortung für das System und persönlichen Konsequenzen, und den Papst setzt er unter Druck, sich wirklich zu positionieren. Und das alles im tiefen Vertrauen aus unserem gemeinsamen Glauben heraus, dass ein "toter Punkt" kein Endpunkt, sondern ein Wendepunkt ist, von dem aus es weitergeht - so Gott will, nach oben.
Warum sollte er nicht wollen...?
Vor uns allen liegt eine große Herausforderung. Glaube und Kirche brauchen einander, davon bin ich fest überzeugt. Glaube ist natürlich etwas zutiefst Persönliches. Aber dennoch braucht er Gemeinschaft. Und wenn es nur die Gemeinschaft derer ist, die mit mir zweifeln oder hoffen. Glaube braucht Erfahrungsräume, in denen Menschen seine heilsame Wirkung spüren können und die Zuwendung Gottes, an die wir doch glauben.
Das geht alles nicht so einfach alleine... Jedenfalls nicht auf Dauer.
Glaube und Kirche brauchen einander. Die Herausforderung liegt vielleicht darin, die Kirche nicht zu "machen" und zu "ordnen", sondern sie einfach Gemeinschaft der Glaubenden "sein zu lassen": aus dem Wort der Heiligen Schrift, auf der Basis unseres Glaubensbekenntnisses, auf dem Boden der langen Tradition - und aus der Inspiration unserer Zeit.
Die katholische Theologie kennt das Prinzip des "et - et". Aus dem Lateinischen übersetzt würde man sagen: "sowohl - als auch". Das eröffnet eine Weite, Dinge nebeneinander zu stellen und stehen zu lassen, von denen wir gewöhnlich sagen würden, es geht nur "Entweder - oder". Dieses Prinzip schafft eigentlich einen immensen Reichtum an Möglichkeiten, "Kirche zu sein". Es zu verinnerlichen und zur "Haltung" werden zu lassen, ist auch so eine der Herausforderungen unserer Zeit - und alle heißen Themen des synodalen Weges müssten nicht bloß in "schwarz oder weiß" gedacht und diskutiert werden...
Mit dem Rücktrittsangebot von Kardinal Marx hat der Diskurs der Kirche in Deutschland - und weltweit - eine neue Dynamik bekommen. Was bisher undenkbar war, geht nun doch: Einer ist bereit, Verantwortung zu übernehmen und vorzeitig auf einen Spitzenposten zu verzichten.
Steter Tropfen höhlt den Stein - so heißt es doch...
Vielleicht war der letzte Freitag auch ein Indiz für den "Wendepunkt"...
hofft
Ihr Pastor Stefan Dumont