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Warum der Keks uns zum Überessen verführt – die unterschätzte Gefahr von stark verarbeiteten Lebensmitteln

Einen grossen Teil der täglich benötigten Energie beziehen wir aus stark verarbeiteten Lebensmitteln. Diese beeinflussen unser Essverhalten mehr, als uns lieb ist – mit teilweise drastischen Folgen.

Alan Niederer 7 min
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Damit der Keks vom Fliessband schmeckt, wendet die Lebensmittelindustrie einige Tricks an.

Damit der Keks vom Fliessband schmeckt, wendet die Lebensmittelindustrie einige Tricks an.

Jason Alden / Bloomberg

Snacks, Convenience-Food, Fertiggerichte, Fast Food – die Liste an wohlklingenden Namen ist lang, doch stets geht es ums Gleiche: um industriell gefertigte Lebensmittel, die wir rasch, bequem und zu einem günstigen Preis konsumieren können. Eine weitere Gemeinsamkeit: Anders als ein Apfel oder ein Stück Fleisch besteht dieses Essen aus vielen Zutaten sowie Zusatzstoffen, die das Produkt lange haltbar, schön anzusehen und schmackhaft machen.

Verarbeitete Lebensmittel begleiten uns auf Schritt und Tritt. Die Prozessierung kann dabei mehr oder weniger weit gehen und verschiedenen Zielen dienen. So sind zwar auch für die Herstellung von Olivenöl, Fischkonserven, Brot, pasteurisierter Milch, handwerklichem Käse oder gefrorenem Gemüse einige Verarbeitungsschritte notwendig. Das hat aber wenig zu tun mit dem, was stark verarbeitete, sogenannte ultraprozessierte Nahrungsmittel ausmacht.

Bei deren Herstellung wird oft ein wichtiger Teil des ursprünglichen Lebensmittels – oder Rohstoffs – eliminiert. So wird zum Beispiel raffiniertes Mehl verwendet, bei dem die Kleie und die Keime des Getreidekorns beseitigt wurden. Das Mehl ist damit gut haltbar und sehr fein. Beim Raffinierungsprozess geht aber ein Grossteil der natürlich vorhandenen Eiweisse, Mineralstoffe, Vitamine und Spurenelemente verloren. Aus ernährungsphysiologischer Sicht sind daher Vollkornprodukte vorzuziehen.

Ultraprozessierte Nahrungsmittel bereiten Ärzten und Ernährungswissenschaftern zunehmend Sorgen. Denn viele von uns beziehen bereits mehr als die Hälfte der täglich benötigten Energie aus solchem Essen. Noch fehlt zwar eine klare Definition, um verarbeitete Produkte von ultraprozessierten zu unterscheiden. Die vor gut zehn Jahren eingeführte Nova-Klassifikation kann hier aber eine Orientierung bieten (siehe Tabelle).

Bei dieser Einteilung wäre auch die Diplomat-Crème einer Schweizer Grossbäckerei als eindeutig ultraprozessiertes Produkt anzusehen. Die Kohlenhydrate stammen hier unter anderem von modifizierter Kartoffelstärke, modifizierter Maisstärke und Zucker. Zudem gibt es reichlich Fett aus Vollrahm und Palmfett, Proteine aus Eiern und Weizen. Auf der Zutatenliste stehen ausserdem ein gutes Dutzend chemischer Stabilisatoren, Verdickungsmittel, Konservierungsstoffe, Farb- und Aromamittel.

Hohe Energiedichte als Problem

Solche Zusatzstoffe sind oft als E-Nummern angegeben. Sie werden in der Schweiz vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen geprüft. Sind sie erlaubt, sollten die damit behandelten Speisen uns nicht unmittelbar schädigen. Wie aber wirkt sich ultraprozessiertes Essen mittel- und langfristig auf unsere Gesundheit aus? Hier sieht die Faktenlage weniger optimistisch aus. Seit einigen Jahren mehren sich die Hinweise, dass ein hoher Konsum nicht nur Übergewicht und Diabetes Typ 2 begünstigt. Eine grossangelegte Studie aus Frankreich legt nahe, dass sich damit auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs erhöht.

«Das wohl grösste Problem von ultraprozessierten Nahrungsmitteln ist, dass sie uns zum Überessen verführen», sagt Wolfgang Langhans, emeritierter Professor für Physiologie an der ETH Zürich. Dies geschehe über verschiedene Mechanismen. So weisen ultraprozessierte Nahrungsmittel wie etwa ein industriell gefertigter Apfelkuchen im Gegensatz zum weniger stark verarbeiteten Apfelsaft oder zum natürlichen Apfel meist eine hohe Energiedichte auf.

Das bedeutet, dass wir in kurzer Zeit sehr viele Kalorien aufnehmen können. Legen wir beim Essen solcher Speisen nicht bewusst Pausen ein, ist die Gefahr gross, dass wir das physiologische Sättigungsgefühl zu spät wahrnehmen – zu einem Zeitpunkt, da wir schon über unseren Hunger gegessen haben.

«Diese Gefahr ist bei wenig verarbeitetem Essen viel geringer», erklärt Langhans. Denn diese Nahrungsmittel seien meist faserreicher und enthielten mehr Wasser. «Beides geht mit einem grösseren Speisevolumen einher, weshalb die Dehnung der Magenwand als frühes Sättigungssignal rascher einsetzt.»

Ähnlich wie Drogen, Alkohol oder Sex

Das Risiko, dass wir uns überessen, ist auch umso grösser, je besser uns eine Speise schmeckt. Denn wir essen nicht nur zum Überleben, sondern auch wegen des Genusses am Essen. Diesen Dualismus bei der Motivation zum Essen drücken wir sprachlich mit den Wörtern «Hunger» und «Lust» aus. Um die Schmackhaftigkeit ihrer Produkte zu steigern, versehen die Firmen diese nicht nur mit Aromastoffen, sondern auch mit viel Zucker, Fett und Salz. Dieser Cocktail löst in unserem Gehirn – über Neurotransmitter wie Dopamin oder Serotonin – Glücksgefühle aus. Diese Art der Belohnung kann uns dazu animieren, weiterzuessen und später wieder nach dem Keks zu greifen, der bei uns diese Gefühle auslöst.

«Die durch Essen ausgelöste Belohnungsreaktion im Gehirn hat grosse Ähnlichkeiten mit jener bei Drogen, Alkohol oder Sex», sagt Langhans. Neuere Studien hätten zudem gezeigt, dass der Belohnungseffekt dann am grössten sei, wenn eine Speise – wie bei ultraprozessierten Produkten üblich – nicht nur viel Fett oder viele Kohlenhydrate enthalte, sondern gleich beides. Eine solche Kombination sei bei natürlichen Lebensmitteln eher unüblich, so Langhans.

Weil diese (hedonistische) Belohnungsreaktion im Gehirn mit der physiologischen Hunger-Sättigungs-Regulation eng verzahnt ist, kann der Körper die Kalorien- und Nährstoffaufnahme normalerweise fein steuern. Das erlaubt es vielen Menschen, trotz Nahrungsmittelüberfluss das Gewicht zu halten und keinen Nährstoffmangel zu erleiden. ‹Wie Untersuchungen der letzten Jahre nun zeigen, könnte aber genau dieses Zusammenspiel zwischen Magen-Darm und Gehirn durch ultraprozessierte Produkte gestört werden. Im Verdacht stehen zum Beispiel künstliche Süssstoffe, die dem Gehirn Süsse vermitteln, ohne aber die bei diesem Gefühl vom Körper erwarteten Kalorien zu liefern. Eine solche Diskrepanz könne Signale in Richtung «mehr essen» auslösen, so Langhans.

Sauberes Experiment bestätigt Hypothese

Dass uns ultraprozessierte Nahrungsmittel zum Überessen animieren und damit dick machen könnten, wird schon seit Jahren diskutiert. Erst 2019 hat aber die Forschungsgruppe von Kevin Hall aus Bethesda in den USA ein sauberes wissenschaftliches Experiment durchgeführt, das in Fachkreisen als Bestätigung für diese Hypothese gilt. Dazu haben die Ärzte 20 gesunde Erwachsene für 28 Tage in ihr Spital bestellt. Dort erhielten sie 14 Tage lang ultraprozessiertes oder frisch zubereitetes Essen vorgesetzt. In den nachfolgenden 14 Tagen bekamen sie das andere Essen, so dass alle Probanden beide Ernährungsweisen durchmachten.

Bei beiden Regimen wurden ihnen drei üppige Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten serviert. Davon konnten sie so viel essen, wie sie wollten. Das Essen in den beiden Studiengruppen unterschied sich nur unwesentlich, was die angebotene Kalorienzahl oder die Menge an Kohlenhydraten, Proteinen, Fett, Zucker und Salz anbelangte. Der grosse Unterschied betraf die Quelle der Kalorien. Diese stammten im ersten Fall zu über 80 Prozent aus ultraprozessierten Nahrungsmitteln, im zweiten Fall zum gleichen Anteil aus wenig verarbeiteten Nahrungsmitteln.

Die Forscher konnten zeigen, dass die gleichen Probanden in der Phase mit der ultraprozessierten Ernährung im Durchschnitt täglich 500 Kilokalorien mehr zu sich nahmen und nach zwei Wochen ein knappes Kilogramm mehr auf die Waage brachten. Auch wenn dieses Ergebnis eindrücklich ist, sind damit noch nicht alle Fragen beantwortet. So bleibt nach der kurzen Studiendauer unklar, was die Befunde für die längerfristige Entwicklung des Gewichts bedeuten. Zudem nahmen in der Studie nicht alle Probanden mit der ultraprozessierten Ernährung zu; bei einigen aber betrug die Gewichtszunahme über 5 Kilogramm.

«Die Unterschiede dürften vorwiegend genetisch bedingt sein», sagt der Physiologe Langhans. Das habe eine 1990 veröffentlichte kanadische Studie an zwölf eineiigen Zwillingspaaren eindrücklich gezeigt. Diese hatte man mit täglich 1000 Kilokalorien überfüttert. Nach 14 Tagen betrug die durchschnittliche Gewichtszunahme gut 8 Kilogramm – wobei die einzelnen Personen zwischen 4 und 13 Kilogramm zugenommen hatten. Wie sich zeigte, war die Variation zwischen den verschiedenen Zwillingspaaren dreimal so gross wie innerhalb der Zwillingspaare.

Dass das Erbgut bei der Regulation des Gewichts eine zentrale Rolle spielt, erstaunt Langhans nicht. «Die Gene sind die Bauanleitung für Proteine, die im Körper als Enzyme, Rezeptoren oder Peptid-Hormone wichtige Funktionen wahrnehmen», sagt er. Bereits kleine Unterschiede in der Aktivität könnten Auswirkungen darauf haben, wie gut jemand Nahrungsmittel aufnehme oder sie verbrenne. Wie bei Motoren sei der Wirkungsgrad des Stoffwechsels nicht bei allen Menschen gleich gross. Während die einen viel Energie über die Abgabe von Wärme loswerden, würden andere die Energie bevorzugt speichern.

Mehr dicke Kinder und Jugendliche

«Nicht nur Adipöse und Personen mit familiärem Risiko für Übergewicht sollten sich bei ultraprozessierten Nahrungsmitteln zurückhalten», sagt der Internist und Präsident der Eidgenössischen Ernährungskommission Philipp Schütz. Denn beim Essen gebe es neben der Quantität auch die Qualität zu berücksichtigen. «Wir wissen, dass auch schlanke Menschen von einer gesunden Ernährung mit frischen und wenig prozessierten Nahrungsmitteln profitieren», betont der Chefarzt am Kantonsspital Aarau.

In der Schweiz sei das Thema leider noch kaum auf dem Radar, sagt der Mediziner. Das werde sich in den nächsten Jahren aber wahrscheinlich ändern. So will die Eidgenössische Ernährungskommission die ultraprozessierten Lebensmittel zu einem ihrer nächsten Schwerpunktthemen machen. Denn es gebe immer mehr von diesen Produkten, sagt Schütz. «Und wir sehen in den Spitälern immer mehr Kinder und Jugendliche mit teilweise ausgeprägtem Übergewicht.»

Deswegen aber Snacks und Convenience-Food ganz zu verteufeln, könne nicht das Ziel sein, betont der Arzt. Es sei wie immer in der Medizin: «Die Dosis macht das Gift.» Das längerfristige Ziel bei der Aufklärung über gesundes Essverhalten müsse sein, vom Kalorienzählen wegzukommen und stattdessen nur noch mit gesundem Hunger zu essen. Bei diesem Ansatz sei die Wahl der richtigen Lebensmittel aber zentral, so Schütz.

Mein Essen, meine Identität: Die Ernährung beeinflusst uns stärker, als viele denken. Sie kann gesund, aber auch krank machen. Für die einen ist sie ein Hype, für die anderen eine Ersatzreligion. Welche Diät hilft wirklich? Wie gesund ist veganes Essen? Und welche Tipps geben Spitzensportler? Die NZZ widmet sich in einer Serie den wichtigsten Fragen rund ums Essen – von der Produktion über den Genuss bis hin zur Wirkung auf unser Leben.

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