Das Völkerstrafrecht und die Probleme seiner Durchsetzung

von Wolfgang Kaleck

Es ist etwas ruhiger geworden um das Völkerstrafrecht im Jahre 2006. Noch 2002 feierte eine Koalition von europäischen und amerikanischen Staaten (ohne die USA) mit der Arbeitsaufnahme des ständigen Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag den Beginn eines neuen Zeitalters. Die Zahl der Vertragsstaaten ist mittlerweile auf über 100 angewachsen.

Der Chefankläger beim IStGH, der Argentinier Moreno Ocampo, hat die Aufnahme der Ermittlungen zu einer Reihe von Verbrechen auf dem afrikanischen Kontinent verkündet. Obwohl die Zahl der zu ermittelnden Fälle derzeit noch unter 10 liegt, stößt die Anklagebehörde beim IStGH bereits an ihre Grenzen. Die Bedingungen für die Ermittlungen sind äußerst schwierig, da die Konflikte in Sudan und Uganda u.a. noch andauern und die Lage für die betroffenen Bevölkerungsgruppen gefährlich bleibt. Dazu sind die Lebensbedingungen so extrem, dass angeordnete Ermittlungen, wie nach einem Raubüberfall in Bonn oder Madrid nicht zu denken ist. Über die Arbeit des IStGH kann daher derzeit wenig gesagt werden.

Es wird sich zeigen, ob die Skeptiker Recht behalten, die von Anfang an meinten, dass staatlich verstärkte Verbrechen oder von Staatsapparaten komplett durchgeführte und angeordnete Verbrechen einer Strafverfolgung unzugänglich sind. Die Argumente der Zweifler waren sehr verschiedenartiger Natur. Einer der bekanntesten Machtpolitiker unserer Epoche, der ehemalige Außenminister und Sicherheitsberater der USA, Henry Kissinger, war der Auffassung, dass die Sphäre der internationalen Beziehungen und der Militärpolitik Sache der Exekutive, also der Regierungen sei und damit rechtsfrei zu bleiben habe. Gerichte könnten schließlich keine Außenpolitik betreiben. Andere meinten, dass der IstGH eine neue Waffe des Imperialismus sei, um im Gewand der Weltjustiz in die Staaten des Südens zu intervenieren. Strafrechtler aus vielen Ländern sind bis heute äußerst skeptisch, weil sie meinen, dass das aus dem Völkerrecht geborene Völkerstrafrecht nicht in das System des Strafrechts und des Strafprozessrechts hineinpassen würde. Ein erheblicher Einwand war auch, dass dem Gerichtshof keine eigenen Machtmittel zur Verfügung stehen, um Beschuldigter und Angeklagter habhaft zu werden, sondern immer auf die Mithilfe von Regierungen und Militärbündnissen angewiesen sein wird, um seine Zwangsmaßnahmen zu vollstrecken. Damit sei man im hohen Maße von militärischer und polizeilicher Macht abhängig und es sei eine an den Bedürfnissen der mächtigen Staaten ausgerichtete Justiz zu erwarten. Über diese Einwände wird sicherlich in ein paar Jahren zu reden sein, wenn die Anklagebehörde in Den Haag Ergebnisse ihrer ersten Ermittlungen vorlegen wird bzw. wenn sich abzeichnet, in welchen Verfahrenskomplexen Den Haag Ermittlungen aufnehmen und welchen sie abgelehnt werden.

Das Völkerstrafrecht besteht jedoch nicht nur aus dem IStGH und seinen Vorläufern, den UN-Gerichtshöfen zu Ruanda und Jugoslawien sowie einer Reihe gemischt national-internationaler Gerichte in Pnom Penh, Sarajevo und Freetown. Diese Gerichtshöfe sind nur für die Fälle zuständig, die sich in den Unterzeichnerstaaten ereignen oder ihm durch den UN-Sicherheitsrat zugewiesen werden, was bisher zur Überraschung vieler Beobachter beim Sudan der Fall war. Zahlreiche mächtige Staaten, allen voran die USA, haben jedoch das Rom-Statut ebenso wenig unterzeichnet wie die Staaten, in denen seit Jahrzehnten Menschenrechtsverletzungen im großen Umfang stattfinden, wie Russland, Pakistan, China, Iran und Irak. Außerdem - und auch dies war von vornherein klar- sind die Kapazitäten des neu geschaffenen Strafgerichtshofes begrenzt. Deswegen wussten die Unterzeichnerstaaten des Rom-Statuts, dass der Strafverfolgung in den Nationalstaaten nach wie vor große Bedeutung zukommt.

Dabei sind sich alle darüber im Klaren, dass die Strafverfolgung tunlichst in den Staaten stattfinden soll, in denen entweder die Menschenrechtsverletzungen begangen wurden oder aber aus denen Täter und Opfer stammen. Dies ist aber nur selten der Fall. Das argentinische Beispiel, wo kurz nach dem Ende der Militärdiktatur 1976-1983 der Militärjunta von der ersten demokratischen Regierung Alfonson 1985/86 der Prozess gemacht wurde (wobei es später zu Amnestien und Straflosigkeitsgesetzen kam), ist bisher einzigartig geblieben. In vielen Ländern, in denen seit Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen stattfinden, herrscht das Phänomen der sog. Straflosigkeit. Um dieses zu bekämpfen, haben sich insbesondere viele westliche Staaten völkerstrafrechtliche Bestimmungen gegeben, die eine Strafverfolgung bei diesen Kategorien von Verbrechen weltweit erlauben.

Diese sog. universelle Jurisdiktion  oder Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip findet jedoch faktisch nur in wenigen Ländern statt. Die Ursachen hierfür sind sicherlich vielfältig. Von fehlenden rechtsstaatlichen Bedingungen bis zu Korruption oder einfach mangelnden Ressourcen zu Strafverfolgung gibt es eine Reihe von Gründen. Wenige Staaten sind aufgrund ihrer Infrastruktur und aufgrund ihrer gesetzlichen Bestimmungen theoretisch dazu in der Lage, Ermittlungen wegen in anderen Staaten begangener Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord durchzuführen. Die Schwierigkeiten solcher Ermittlungen und später stattfindender Hauptverhandlungen sind nicht zu unterschätzen. Gerade wenn man rechtsstaatliche Maßstäbe auch in solchen Verfahren ernst nehmen will, gibt es größte Beweisprobleme, weil in den Tatartstaaten die Menschenrechtsverletzer entweder an der Macht sind oder dieser jedenfalls so nahe stehen, dass Ermittlungen durch Urkundsbeweise oder die Aufnahme von Zeugenaussagen äußerst schwierig bleiben. Die Beschuldigten und Verdächtigen bleiben oft in ihren Staaten und sind bei Auslandsreisen durch Immunität geschützt. Die betroffenen Zeugen sind aus verschiedenen Gründen zu Zeugenaussagen nicht in der Lage, sei es wegen ihrer Angst, weil sie selber oder ihre Familien noch im Herrschaftsbereich ihrer ehemaligen Peiniger sind.

Das Beispiel des 1998 in London verhafteten chilenischen Ex-Diktators Pinochet muss daher nunmehr schon seit fast acht Jahren als Modellfall für universelle Jurisdiktion herhalten. Für viele war es eine Enttäuschung, dass die von Spanien verlangte Auslieferung durch die britische Justiz abgelehnt wurde, weil man Pinochet Verhandlungsfähigkeit absprach. Auf der anderen Seite sind sich fast alle Kenner der chilenischen Verhältnisse klar, dass es ohne die Verhaftung von Pinochet nicht zu dem erheblichen Machtverlust von Pinochet und seinen Unterstützern gekommen wäre und auch die dort mittlerweile zahlreichen Strafverfahren nicht ins Laufen gekommen wären, wenn es den Anstoß aus dem Ausland nicht gegeben hätte.

Das Beispiel Pinochets führte zur Begründung einer ganzen Reihe von Netzwerken von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten. Insbesondere in den westeuropäischen Staaten wie Spanien, Belgien, aber auch Deutschland, gab es eine Vielzahl von Versuchen, ausländische Diktatoren und Menschenrechtsverletzer in den jeweiligen Nationalstaaten strafverfolgen zu lassen. Diese Versuche sind teilweise nicht so spektakulär gewesen. So kam es zu einer Reihe von Strafverfahren gegen mittlerweile in Belgien lebende am Völkermord in Ruanda Beteiligte. Aber auch Ex-Diktatoren wie Hissan Habre aus Tschad müssen sich in Belgien verantworten. In Deutschland gab es in den 90erJahren etwa 100 Strafverfahren gegen verschiedene Beteiligte an Völkermordhandlungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Von dem Menschenrechtsorganisationsnetzwerk „Koalition gegen Straflosigkeit" wurden Strafverfahren zum Nachteil von etwa 40 Opfern gegen etwa 90 ehemalige Militärs aus Argentinien angestrengt. Da in Deutschland keine Verurteilung in Abwesenheit möglich ist, sind die Verfahren schnell an ihre Grenzen gestoßen. Allerdings konnte die „Koalition gegen Straflosigkeit" einen gewissen Erfolg verzeichnen, als 2003 internationale Haftbefehle gegen die noch lebenden Ex-Diktatoren wie Videla und Massera erlassen wurden und Deutschland seitdem die Auslieferung der beiden Ex-Diktatoren verlangt. Doch das als Modellstrafgesetzbuch seit dem 30.06.2002 gültige Völkerstrafgesetzbuch ist in Deutschland noch nicht zur Anwendung gekommen. Für Ermittlungen bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständige Bundesanwaltschaft hat von sich aus noch keine Ermittlungsverfahren gegen Verdächtige von Taten nach dem 30.06.2002 eingeleitet und darüber hinaus die Verfahren eingestellt, in denen von Menschenrechtsorganisationen die Aufnahme von Ermittlungen verlangt wurde. Der spektakulärste Versuch war bisher die Strafanzeige gegen den US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld u.a. zum Teil in Deutschland stationierte hohe US-Militärs und zivile Verantwortliche für die Folterstraftaten in dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib (vgl. dazu: www.rav.de).

Doch auch hier ist es möglicherweise zu früh, um endgültige Urteile zu fällen. Zwar gab das vorschnelle Absehen von Ermittlungsverfahren im Fall Rumsfeld zu erheblicher Kritik Anlass: Die Bundesanwaltschaft stellte das Verfahren u.a. auf Druck der US-Regierung wenige Tage vor der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2005 ein, nachdem Rumsfeld zuvor gedroht hatte, diese international renommierte Konferenz nicht zu besuchen, wenn noch der Anschein von Ermittlungen gegen ihn bestünde. Aus diesem Grunde haben sich die Anzeigenerstatter um die amerikanische Bürgerrechtsorganisation „Center for Constitutional Rights" und dem deutschem RAV zusammengeschlossen und eine Beschwerde beim UN-Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit der Justiz eingelegt. Doch in Wirklichkeit hat sich noch keine feste Position von deutschen Strafverfolgungsbehörde zum Völkerstrafrecht herausgebildet. Auf der einen Seite wurde das Völkerstrafgesetzbuch einstimmig im Bundestag verabschiedet und wird bis heute vom Bundesjustizministerium und allen wichtigen Rechtspolitikern und Rechtswissenschaftlern verteidigt. Auf der anderen Seite ist man sich der Schwierigkeiten bei derartigen Ermittlungen in Auslandssachverhalten im Klaren. Die Friedensbewegung und für Menschenrechtsorganisationen bedeutet dies, dass zumindestet derzeit juristische Mittel bei kriegerischen Auseinandersetzungen von begrenzter Durchschlagskraft sind. Doch es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Auseinandersetzung um das Recht immer so schwierig wie langwierig als auch notwendig waren. Die Arbeiterbewegung konnte nur aufgrund ihrer politischen Stärke erreichen, dass es im Arbeitsrecht bis zum heutigen Tag schützende Formen gibt. Im Strafrecht und .im Völkerstrafrecht ist die Anfälligkeit für politische Interventionen gewöhnlich besonders groß. Doch es wird in Zukunft auch kein Weg daran vorbei gehen, Kriege und Kriegsverbrechen nicht politisch, sondern auch juristisch zu bekämpfen. Hier ist das Völkerstrafrecht ein Instrument, das es sehr sorgfältig und gewissenhaft anzuwenden gilt. Die stationäre Einreichung von Strafanzeigen ist sicherlich nicht dazu geeignet, Strafverfolgungsmaßnahmen auszulösen. Wer auf die Schnelle ein paar Seiten zusammenschreibt und mit Quellenangaben aus Zeitungsartikeln versieht, wird nichts anderes erreichen, als eine schnelle Einstellung des Verfahrens mit Standardbriefen von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Die Anti-Atomkraftbewegung hat es vorgemacht, wie wichtig die Nutzung juristischer Mittel sowohl im Kampf gegen Kernkraftwerke selbst als auch zur Absicherung von Freiräumen für Proteste sind. Zuletzt sei an den großartigen Erfolg der IALANA erinnert, die immerhin ein Urteil des internationalen Gerichtshofes in Den Haag zur Frage der Rechtmäßigkeit von Atomwaffen erreichten, weil sie in vorbildlicher Weise juristische und politische Mittel national und international zum Einsatz brachten.

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Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt in Berlin, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (www.ecchr.eu).