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Interim measures: ein erfolgsversprechendes Instrument zum Schutz der Menschenrechte

20.09.2022

Wiederholt ordnen UNO-Vertragsausschüsse vorsorgliche Massnahmen – sogenannte interim measures – gegen die Schweiz an. Damit sollen Personen in laufenden Verfahren vor drohenden Menschenrechtsverletzungen geschützt werden. Der Verein AsyLex hat anhand von Individualbeschwerden bei UNO-Ausschüssen bereits in über 20 Fällen interim measures erwirkt. Sie erweisen sich insbesondere im Asylbereich als hilfreiches Instrument zum Schutz der Menschenrechte, verdeutlichen aber auch die Unzulänglichkeiten der Schweizer Rechtspraxis.

Amna* flieht aus Somalia. Sie ist dort zwangsverheiratet und durch ihren Ehemann physisch sowie psychisch misshandelt worden. Zuletzt überfällt eine terroristische Organisation ihr Haus und tötet ihren Ehemann. Auf ihrer Flucht wird Amna vergewaltigt und als Arbeitskraft ausgebeutet. Sie erreicht Griechenland, wo sie erfolgreich einen Asylantrag stellt. Trotzdem muss sie in Athen auf der Strasse leben: in den vorhandenen Asylunterkünften fehlt der Platz. Als sie nach einer Vergewaltigung weder Schutz durch die griechische Polizei noch psychologische oder medizinische Hilfe erhält, flieht Amna in die Schweiz.

Obwohl die junge Frau an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und suizidgefährdet ist, wollen die Schweizer Behörden sie nach Griechenland abschieben – weil sie dort bereits Asyl erhalten hat. Welche individuellen Risiken die Rückführung für sie als Frau und Opfer sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt birgt, berücksichtigen weder das Staatssekretariat für Migration noch das Bundesverwaltungsgericht.

Mithilfe des Vereins AsyLex gelangt Amna mit einer Individualbeschwerde gegen die Schweiz an den UNO-Frauenrechtsausschuss. Aufgrund der Bedrohung für Amnas Menschenrechte in Griechenland, erlässt der Ausschuss eine vorläufige Massnahme: Er verlangt von der Schweiz, von der Rückführung abzusehen, bis er das konkrete Risiko eingehend geprüft hat. Amna darf vorläufig in der Schweiz bleiben.

Interim measures in Individualbeschwerdeverfahren

Wenn ein Staat die in den UNO-Abkommen oder ihren Zusatzprotokollen enthaltenen Rechte verletzt, können davon betroffene Einzelpersonen – oder Organisationen wie AsyLex als ihre Vertretung – anhand des Individualbeschwerdeverfahrens an den entsprechenden UNO-Vertragsüberwachungsausschuss gelangen und dort die Verletzung der Vertragsbestimmung(en) geltend machen.

Als Voraussetzung für ein Individualbeschwerdeverfahren muss ein Vertragsstaat die jeweiligen Abkommen und Zusatzprotokolle ratifiziert haben, welche den Zugang zum Individualbeschwerdeverfahren ermöglichen und die Zuständigkeit des Ausschusses für diese Beschwerden anerkennen. Gegen die Schweiz sind Individualbeschwerden beim UNO-Frauenrechtsausschuss (CEDAW), UNO-Antifolterausschuss (CAT), UNO-Kinderrechtsausschuss (CRC), UNO-Antirassismusausschuss (CERD) sowie dem UNO-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen (CED) möglich. Hingegen hat die Schweiz die notwendigen Zusatzprotokolle für Beschwerden beim UNO-Menschenrechtsausschuss (CCPR), dem UNO-Ausschuss für Sozialrechte (CESCR) sowie dem UNO-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) nicht ratifiziert.

Da die Individualbeschwerdeverfahren selbst keine aufschiebende Wirkung haben und mehrere Jahre dauern können, kann ein angeklagter Staat vom entsprechenden UNO-Ausschuss zu jedem Zeitpunkt dazu aufgefordert werden, vorsorgliche Massnahmen zu ergreifen. Die sogenannten interim measures zielen darauf ab, die Personen im laufenden Individualbeschwerdeverfahren vor drohenden Menschenrechtsverletzungen und einem nicht wiedergutzumachenden Schaden zu bewahren. Einen ähnlichen Schutzmechanismus nutzt neben den UNO-Vertragsausschüssen etwa auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Rule 39).

Brennpunkt Asylwesen

Insbesondere im Asylwesen ist die Schweiz oft Adressatin von vorsorglichen Massnahmen durch die UNO-Vertragsorgane. So hat die Organisation AsyLex – in diversen Fällen mit der Unterstützung von Stephanie Motz und Fanny de Weck von Rise Attorneys at law – in den letzten zwei Jahren in 23 Fällen erfolgreich interim measures vor UNO-Vertragsausschüssen erwirkt; und damit Rückführungen von geflüchteten Menschen verhindert, welche die Menschenrechte der Betroffenen gefährdet hätten: In neun Verfahren vor dem UNO-Frauenrechtsausschuss, sechs Verfahren vor dem UNO-Antifolterausschuss, fünf Verfahren vor dem UNO-Kinderrechtsausschuss und in einem Verfahren vor dem UNO-Antirassismusausschuss. Nur in vier Fällen konnte AsyLex keine vorläufige Massnahme erwirken.

Bei neun der angefochtenen Rückführungen haben die UNO-Vertragsausschüsse Überstellungen im Rahmen von Dublin-Verfahren gestoppt. So etwa im Fall von Luam*, welchen die Schweizer Behörden nach Italien überstellen wollten. Luam ist in seinem Heimatland Äthiopien verfolgt und gefoltert worden und daraufhin bis nach Italien geflüchtet. Dort muss er trotz chronischem Diabetes, einer posttraumatischen Belastungsstörung und Suizidalität über vier Jahre auf der Strasse leben. Ungeachtet seiner besonderen Vulnerabilität bieten ihm die italienischen Behörden weder Schutz noch materielle, medizinische oder psychologische Unterstützung. Daraufhin flüchtet Luam in die Schweiz, wo auf sein Asylgesuch jedoch nicht eingetreten und eine Dublin-Rückführung angeordnet wird. Erst der UNO-Ausschuss zur Verhütung von Folter kann die Überstellung anhand einer vorsorglichen Massnahme schliesslich vorläufig abwenden.

In fünf weiteren Fällen konnte AsyLex zudem Rückführungen von Personen verhindern, die in vermeintlich «sichere Drittstaaten» – wo sie bereits einen Schutzstatus erhalten haben – überstellt werden sollten; etwa nach Griechenland oder Bulgarien. Die Situation für Schutzsuchende ist in diesen Ländern besonders prekär. Der Status als «anerkannte Flüchtlinge» existiert nur auf dem Papier und eine tatsächliche Unterstützung anhand von Nahrungsmitteln, einer Unterkunft oder medizinischer Versorgung fehlt. So erging es etwa Ellaha*, welche vor einer Zwangsheirat aus dem Iran floh. Sie erreicht Griechenland, wo ihre Flüchtlingseigenschaft anerkannt wird. Trotzdem hat sie keine Unterkunft und lebt im «Jungle». Dort wird sie zweimal vergewaltigt und schliesslich schwanger. Von der griechischen Polizei erhält sie in dieser Situation weder Hilfe noch medizinische oder psychologische Unterstützung. Ellaha flieht deshalb weiter in die Schweiz. Obwohl sie Betroffene geschlechterspezifischer und sexualisierter Gewalt ist, führen die Schweizer Behörden bei ihrer Ankunft keine geschlechterspezifische Anhörung durch und verkennen die Risiken, welchen Ellaha bei einer Rückkehr nach Griechenland ausgesetzt gewesen wäre. Der Vollzug des Wegweisungsentscheids, welcher vom Staatssekretariat für Migration gesprochen und vom Bundesverwaltungsgericht gestützt wird, kann letztendlich nur anhand einer Individualbeschwerde abgewendet werden: Der UNO-Frauenrechtsausschuss verhindert die Rückführung anhand einer interim measure.

Bezeichnend ist weiter, dass AsyLex in allen Individualbeschwerdeverfahren vor dem UNO-Kinderrechtsausschuss vorsorgliche Massnahmen erwirken konnte. Das ist hauptsächlich auf die mangelnde Berücksichtigung des Kindeswohls durch die Schweizer Behörden zurückzuführen. So etwa im Fall von Mariam* und ihrer 14-jährigen Tochter Banu*, die von den Schweizer Behörden nach Kroatien rückgeführt werden sollten. Nicht berücksichtigt wurde bei dieser Entscheidung, dass Mutter und Tochter an der kroatischen Grenze bereits mehrfach gewaltsame Pushbacks erlebt haben und ihnen dort eine Kettenabschiebung droht. Weder Mariam – eine Überlebende von sexualisierter und geschlechterspezifischer Gewalt – noch die an einem Tumor erkrankte Banu würden in Kroatien Zugang zu der für sie notwendigen medizinischen und psychologischen Versorgung erhalten. Nach einer erfolglosen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht wird die Wegweisung durch eine Intervention des UNO-Kinderrechtsausschusses vorläufig gestoppt.

Das Kindeswohl ebenso missachtet haben die Behörden im Fall von Nila* und ihren Kindern, welche gemeinsam mit ihrem Ehemann und Vater vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. In Bulgarien angekommen, wird die Familie auf engstem Raum interniert. Schutz vor der physischen und sexualisierten Gewalt durch den Vater erhalten die Frau und ihre Kinder nicht. Trotz Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft lebt die Familie auf der Strasse. Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann gelangt Nila mit ihren Kindern in die Schweiz. Obwohl es den Kindern in Bulgarien an einer Unterkunft, medizinischer und psychologischer Versorgung, Bildung und Schutz vor ihrem Vater fehlen würde, beschliessen die Schweizer Behörden, die Familie wegzuweisen.** Der UNO-Kinderrechtsausschuss kann die Rückführung schliesslich verhindern.

Neben den Rückführungen in Dublin- und «sichere» Drittstaaten hat AsyLex schliesslich auch bei Wegweisungsentscheiden in Herkunftsstaaten wie Äthiopien, Sri Lanka, die Demokratische Republik Kongo sowie Bosnien und Herzegowina interim measures erwirkt. Augenfällig ist hier, dass die Schweizer Behörden regelmässig das individuelle Folterrisiko ungenügend abklären. So sollte etwa auch der junge Nandan* nach Sri Lanka rückgeführt werden, obwohl er dort von der paramilitärischen Organisation «Liberation Tigers of Tamil Eelam» zwangsrekrutiert und nach seiner Desertation über zwei Jahre lang von der sri-lankischen Kriminalpolizei inhaftiert und gefoltert worden war. Auch nach seiner Freilassung wird er ständig überwacht, wiederholt aufgegriffen sowie bedroht, woraufhin er im Jahr 2016 in die Schweiz flieht. Trotz dem hohen Risiko, bei einer Rückführung erneut verfolgt und gefoltert zu werden, bestätigt das Bundesverwaltungsgericht den Wegweisungsentscheid des Staatssekretariats für Migration. Die Rückführung wird schliesslich vom UNO-Antifolterausschuss abgewendet.

Trotz wiederholter und massiver Kritik des UNO-Antifolterausschusses führt die Schweiz zudem weiterhin Rückführungen nach Äthiopien durch. Darüber hinaus weisen die Behörden immer noch Asylgesuche von Schutzsuchenden aus Eritrea ab. Dies, obwohl aus Eritrea geflüchtete Menschen aufgrund der prekären Bedingungen im Schweizer Nothilfesystem oft dazu gezwungen sind, in ihr diktatorisch geführtes Heimatland zurückzukehren; und Rückkehrer*innen gemäss einem Bericht des UNO-Sonderberichterstatters über die Lage der Menschenrechte in Eritrea dort dem Risiko von Folter, unmenschlicher Behandlung sowie aussergerichtlichen Tötungen ausgesetzt sind. Trotzdem sehen das Staatssekretariat für Migration und das Bundesverwaltungsgericht keinen Grund ihre Praxis anzupassen und von den Rückführungen nach Äthiopien und den negativen Asylentscheiden gegenüber Personen aus Eritrea abzusehen.

Fehlende Abklärung im Einzelfall

Die hohe Anzahl vorläufiger Massnahmen und Rügen der UNO-Vertragsorgane gegen die Schweiz im Asylbereich kommt nicht von ungefähr. Sie ist gemäss Joëlle Spahni, Head International bei AsyLex, darauf zurückzuführen, dass die zuständigen Behörden die individuellen Risiken für die Betroffenen sowie die Menschenrechtssituation in den Zielstaaten bei Rückführungen ungenügend abklären: «Bei der Beurteilung von Asylgesuchen durch das Staatssekretariat für Migration und das Bundesverwaltungsgericht fehlt es grundsätzlich an einer individuellen und geschlechterspezifischen Risikoeinschätzung, sowie an der Berücksichtigung der Vulnerabilität der betroffenen Personen».

Insbesondere Dublin-Länder – aktuell alle EU- und EFTA-Staaten –, gelten in der Schweiz pauschal als sicher (Art. 31a AsylG), weil sie die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben. Strukturelle Schwachstellen in ihren Asylwesen oder der Gesundheitsversorgung werden von den Schweizer Migrationsbehörden nicht anerkannt. Hat eine Person in einem Dublin-Staat bereits einen Asylantrag gestellt, wird auf ihr Asylgesuch in der Schweiz deshalb in der Regel nicht eingetreten und eine Wegweisung angeordnet. Auch weitere Staaten können von den Schweizer Behörden als «sichere Heimat- oder Herkunftsstaaten» oder «sichere Drittstaaten» qualifiziert werden, wenn die Schutzsuchenden nach ihrer Einschätzung dort vor Verfolgung sicher sind, beziehungsweise vor Ort ein effektiver Schutz vor Rückschiebungen besteht (Art. 6a Abs. 2 Bst. a und b AsylG).

Bei der Beurteilung, ob ein Staat für eine asylsuchende Person «sicher» ist, stützen sich die Behörden meist auf Zusicherungen der Dublin-Staaten beziehungsweise bilaterale Rücknahmeübereinkommen mit Drittstaaten. «Auf Grundlage behördlicher Informationen nehmen das Staatssekretariat für Migration sowie das Bundesverwaltungsgericht nach wie vor oft eine zu optimistische Lageeinschätzungen vor und unterlassen es dabei im Einzelfall abzuklären, ob die Aufnahmebedingungen in den Dublin- und Drittstaaten den rechtlichen Vorgaben entsprechen oder ob ein reales Risiko für Menschenrechtsverletzungen besteht», so Rechtsanwältin Stephanie Motz.

Zwei Seiten der Medaille

Die erwirkten interim measures von den UNO-Vertragsausschüssen wie auch die Einschätzungen etablierter Fachorganisationen machen zweierlei deutlich: Die vorsorglichen Massnahmen in Individualbeschwerdeverfahren vor den UNO-Vertragsausschüssen sind ein wirksames Mittel, um schutzsuchende Menschen zumindest vorläufig vor weiteren Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Zwar sind weder die vorläufigen Massnahmen noch die abschliessenden Entscheide zu den Individualbeschwerden rechtlich verbindlich, jedoch besitzen die Einschätzungen und Forderungen der UNO-Vertragsausschüsse einen autoritativen Rechtsfeststellungscharakter und verdeutlichen an Einzelfällen, ob und inwiefern Vertragsstaaten ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen missachten. Bei der Anordnung von interim measures durch einen UNO-Vertragsausschuss sehen die Schweizer Behörden sodann in der Regel vorläufig von der geplanten Rückführung ab. In drei der von AsyLex vertretenen Fälle traten die Behörden zudem auf Asylgesuche ein, ohne den definitiven Entscheid des entsprechenden UNO-Gremiums abzuwarten.

Neben dem Nutzen, welche die interim measures dem Menschenrechtsschutz in der Schweiz bringen, verdeutlichen sie zeitgleich die menschenrechtlichen Unzulänglichkeiten der aktuellen Asylpraxis. Rechtsanwältin Stephanie Motz führt aus: «Die Schweizer Migrationsbehörden fällen ihre Entscheide basierend auf der Annahme, dass innerhalb Europas dank bilateraler Vereinbarungen vergleichbare Standards im Asylverfahren sowie bei der Aufnahme und Schutzgewährung vorherrschen. Die tatsächlichen strukturellen Mängel im jeweiligen Asylwesen, die effektive Menschenrechtslage vor Ort und die Vulnerabilität der Betroffenen berücksichtigen sie nur unzureichend». Die Erfolgsquote von AsyLex – in über 80 Prozent der Individualbeschwerden vor UNO-Vertragsausschüssen hat der Verein interim measures erwirkt – und die Rügen von Seiten der Vertragsgremien liefern nun den Hinweis, dass die Schweizer Asylpraxis eindeutig zu restriktiv ist und die Menschenrechte von Schutzsuchenden gefährdet.

* Name geändert
** Zum Schutz der Betroffenen wird das dazugehörige Urteil nicht verlinkt.

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